Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
einmal angezündet worden. Meist macht man sich nicht klar, wie schwierig es ist, eine Leiche durch Feuer völlig zu zerstören. Es hört sich nach einer einfachen Methode an, um ein Mordopfer loszuwerden, aber das ist ein Irrtum.
In dem Brandfass fand ich neben dem Oberschenkelknochen, den ich zu Beginn gesehen hatte, noch eine Fülle weiterer Skelettteile. Der Oberschenkel (es war der linke) war zwar stark verbrannt, aber noch relativ vollständig. Anders verhielt es sich mit den meisten übrigen Knochen in dem Fass: Sie waren zum größten Teil nur noch brüchige kleine Brocken, die ich sehr vorsichtig handhaben musste, damit sie nicht zerbrachen. Ich legte das Fass auf die Seite, steckte den Kopf hinein, durchstöberte den Inhalt sehr gründlich und suchte nach Knochen. Ich fand eine Menge, allerdings ausschließlich Bruchstücke: Teile eines Schulterblattes, ein Schienbein, andere lange Knochen, den größten Teil des Kreuzbeins und mehrere Wirbel, von denen einige auf den Boden des Fasses gefallen und den schlimmsten Wirkungen des Feuers entgangen waren; sie waren zwar leicht verkohlt, an ihnen hafteten aber noch kleine Stücke des weichen Gewebes. Ein großes Schädelfragment lag auf dem Boden, und auch dieser Knochen war nicht so stark verbrannt wie die anderen. Auf der Erde rund um das Fass waren ebenfalls Knochen verstreut: weitere Fragmente von langen Knochen, Stücke von Kreuzbein und Kreuzdarmbeingelenk, Rippen- und Wirbelfragmente, ein Zehenknochen und zwei weitere Schädelteile.
Während ich das Fass untersuchte, arbeiteten Joanne und Lauren sich systematisch durch die zwölf Rechtecke rund um die Matratze. Zunächst unterzogen sie die Oberfläche einer visuellen Prüfung, wobei sie schon zahlreiche Knochenfragmente fanden. Nachdem sie dann alle erkennbaren Knochen eingesammelt hatten, durchsuchten sie das gesamte übrige Aschenmaterial, bis sie auf die nackte Erde stießen. Drei der zwölf Rechtecke unseres Koordinatennetzes enthielten Abfall, aber keine Knochen; die anderen neun lieferten Tausende von Knochenstücken. Als wir mit der Bergung fertig waren, brach die Dunkelheit bereits herein. In drei Stunden hatten wir 32 Asservatenbeutel, jeder so groß wie ein kleiner Rucksack, mit Knochenstücken gefüllt.
Wir fuhren zurück nach Knoxville. Matt Rogers wurde ins Kreisgefängnis von Union gebracht und wegen Mordes angeklagt.
Manche Männer tun alles Mögliche, um ihre Frauen loszuwerden. Ich dagegen hätte alles getan, um Annette bei mir zu behalten.
Es traf uns völlig überraschend. Am Silvesterabend 1996 hatte Annette ein paar geschwollene Lymphknoten am Schlüsselbein bemerkt. Am Morgen des 2. Januar stand sie munter und vergnügt im Sprechzimmer des Arztes. Die Röntgenaufnahmen zeigten ein schreckliches Bild: Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Eine Strahlenbehandlung, dann war der Tumor weg.
Aber nur fünf Monate später war auch Annette nicht mehr da. Eines Morgens wachte sie mit Atemnot auf. Ich rief den Rettungswagen. Auf dem Weg ins Krankenhaus setzte das Herz aus. Sie wurde reanimiert; es setzte erneut aus. Der Krebs war wieder da, und das mit verheerender Kraft. Als der Rettungswagen durch die Einfahrt der Notaufnahme raste, lag Annette bereits im Sterben. Ich kam nur eine oder zwei Minuten hinterher, aber da war sie schon tot.
Mein ganzes Leben lang war ich gläubiger Christ gewesen. Zwar hatte ich auch Zweifel - welcher denkende Mensch hat die nicht? -, aber ich hatte immer noch darauf vertraut, dass es einen liebenden Gott gibt. Ich bin mit der Kirche groß geworden; ich habe jahrelang in der Sonntagsschule unterrichtet; ich bin mit Jugendgruppen im Sommer zu Missionsprojekten nach Mexiko gefahren. Aber in jenem Augenblick in der Notaufnahme - in dem Augenblick, als Annette starb - hatte ich das Gefühl, als sei auch mein Glaube an Gott gestorben.
Als ich darüber in den folgenden, düsteren Wochen weiter nachdachte, gelangte ich zu der Überzeugung, die Bibel habe es genau verkehrt herum dargestellt: Vielleicht hat Gott uns nicht nach Seinem Bild erschaffen; vielleicht haben wir Gott nach unserem Bild erschaffen. Ein griechischer Philosoph hat schon vor 2500 Jahren den gleichen Schluss gezogen. Xenophanes schrieb: »Die Äthiopier bilden ihre Götter schwarz und stumpfnasig, die Thraker blauäugig und rothaarig ab... Wenn Kühe, Pferde und Löwen Hände hätten und damit malen könnten, dann würden die Pferde pferdeähnliche und die Kühe kuhförmige
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