Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
neuer Geschäftspartner. Er war an einem Samstagmorgen zu Rubenstein ins Auto gestiegen und dann spurlos verschwunden. Kurz zuvor hatte er seinem Partner eine Lastwagenladung mit teuren Antiquitäten übergeben, die mit ungedeckten Schecks bezahlt waren.
Im Juli 1998 gab es für Applewhite endlich einen Hoffnungsschimmer: In diesem Monat befand ein Geschworenengericht in Mississippi einen Angeklagten für schuldig, seinen vierjährigen Sohn ertränkt zu haben, und das Urteil gründete sich ausschließlich auf indirekte Indizien. Das Motiv des Mannes war eine Lebensversicherung von 100 000 Dollar gewesen. Applewhite ging zu Lamptons Assistenten Bill Goodwin - er war der Staatsanwalt, der den Prozess gerade gewonnen hatte - und appellierte an ihn: »Bill, wir haben bessere Argumente als in diesem Fall. Es sind nicht nur 100 000 Dollar, sondern 250 000, und es geht nicht nur um ein Opfer, sondern um drei.«
Zwei Monate später legte der Distriktsstaatsanwalt Applewhites Indizien einem Geschworenengericht vor. Rubenstein wurde wegen der Morde an der Familie Perry und wegen Versicherungsbetrug angeklagt und von Louisiana nach Mississippi ausgeliefert. Im Juni 1999 begann der Prozess.
Das Fehlen handfester Beweise war nicht das einzige Problem, mit denen die Ankläger zu kämpfen hatten. Der Todeszeitpunkt war unter anderem deshalb von so entscheidender Bedeutung, weil Rubenstein eine Zeugin präsentierte: Tanya Rubenstein - sie war bequemerweise seine Nichte - sagte aus, sie habe Annie Perry gesund und munter in einer Bar in New Orleans gesehen. Ihren Angaben zufolge war das am 2. Dezember gewesen, 14 Tage bevor die Leichen gefunden wurden. Und für die Zeit zwischen dem 2. und 16. Dezember hatte Rubenstein ein wasserdichtes Alibi. Wenn Darryl, Annie und Krystal tatsächlich am 2. Dezember noch am Leben waren, konnte Rubenstein sie nicht ermordet haben. Falls wir aber mit den Methoden der forensischen Wissenschaft nachweisen konnten, dass sie an diesem Tag bereits tot waren, war die Glaubwürdigkeit der Nichte erschüttert, und damit war auch Rubensteins Alibi gegenstandslos.
Das würde die Verteidigung nicht kampflos zulassen. Dieses Mal war es ein Kampf um Maden.
Seit ich die Tatortfotos zum ersten Mal gesehen hatte, musste ich immer wieder über die fehlenden Puppenhüllen nachgrübeln. Hätte ich sie gesehen, wäre ich sicher gewesen, dass die Besiedlung mit Maden bereits deutlich vor dem 2. Dezember begonnen hatte. Ohne sie jedoch konnte ich definitiv nur sagen, dass die Maden sich seit ungefähr zwei Wochen auf den Leichen befanden. Natürlich hatten die kühleren Temperaturen die Aktivität der Schmeißfliegen und Maden vermindert: Unter elf Grad gehen Schmeißfliegen in einen Ruhezustand über, und während eines großen Teils der fraglichen Zeit lag die Temperatur deutlich darunter. Deshalb war ich zuversichtlich, dass ich mit meiner Schätzung von 25 bis 35 Tagen Recht hatte. Aber würden die Geschworenen meine Zuversicht teilen? Diese Frage bereitete mir Sorgen, insbesondere weil die Verteidigung immer wieder auf der Tatsache herumritt, dass ich kein Insektenfachmann war.
Nach nur wenigen Stunden setzte die Jury den Richter in Kenntnis, dass die Beratungen festgefahren waren: Es stand 11 zu 1 für eine Verurteilung. Der Richter erklärte die Verhandlung für gescheitert, und die Ankläger begaben sich wieder an ihre Schreibtische, um die Neuauflage des Verfahrens vorzubereiten. Zur Stärkung ihrer Position zogen Goodwin und Lampton insektenkundliche Verstärkung hinzu: meinen früheren Studenten Bill Rodriguez, der mittlerweile als weltweit führender Experte für die Insektenbesiedlung menschlicher Leichen galt.
Der zweite Prozess begann am 21. Januar 2000. Wenige Tage später rief Goodwin mich in den Zeugenstand. Wir gingen kurz meine Qualifikationen und wissenschaftlichen Leistungen durch, darunter auch die Forschungsarbeiten auf der Body Farm. Daraufhin wurde ich auch dieses Mal als Sachverständiger für forensische Anthropologie anerkannt. Anschließend erklärte ich den neuen Geschworenen genau wie in der ersten Verhandlung, wie ich zu meiner Schätzung für den Todeszeitpunkt gelangt war.
Als der Verteidiger an der Reihe war, mich ins Kreuzverhör zu nehmen, versuchte er sofort, meine Schätzung unglaubwürdig zu machen. Wie nicht anders zu erwarten, sprach er zunächst den Fall des Colonel Shy an, bei dem ich mich in der seit dem Tod verstrichenen Zeit um fast 113 Jahre verschätzt
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