Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
hatte. Ich erwiderte, dieser Fall sei der Grund gewesen, warum wir mit unserem Forschungsprogramm auf der Body Farm begonnen hätten. Auch mit dem nächsten Argument hatte ich gerechnet: Er konzentrierte sich auf die Maden und die Tatsache, dass sie sich im Zwei-Wochen-Stadium befanden. Ich wies darauf hin, dass die kühleren Temperaturen ihre Entwicklung vermutlich verlangsamt hatten, aber er ritt immer weiter auf der Zeit von 14 Tagen herum.
Ich erwiderte, man müsse noch einen weiteren Faktor in Betracht ziehen, der mir erst deutlich geworden war, als ich mehr über den Tatort erfahren hatte. Ja, die Maden befanden sich in dem typischen 14-Tage-Stadium. Aber die Leichen lagen in einem geschlossenen Raum - sie waren in der Hütte eingeschlossen. Und bei dieser Hütte handelte es sich nicht um ein zugiges Bauwerk aus rohen Baumstämmen, deren Ritzen mit Lehm abgedichtet waren; vielmehr war sie aus soliden Balken von fünf mal zehn Zentimetern erbaut, die flach übereinander lagen. Der Mann, der sie errichtet hatte, arbeitete in einer Holzhandlung und konnte solche Balken offenbar umsonst oder zumindest sehr billig bekommen, deshalb baute er die ganze Hütte daraus. Selbst die Innenwände bestanden aus dicht an dicht stehenden Vierkanthölzern. Es gab schlicht und einfach kaum Öffnungen, durch die Insekten hätten eindringen können.
Ich erklärte, die scheinbare Diskrepanz zwischen Verwesungszustand und Insektenbesiedelung müsse in Wirklichkeit nicht unbedingt ein Widerspruch sein. Es hatte einfach eine Zeit lang gedauert, bis die Schmeißfliegen den Todesgeruch im Inneren der Hütte bemerkten - und noch länger brauchten sie, bis sie zwischen den dicht an dicht stehenden Balken ihren Weg gefunden hatten. Die zwei Wochen, in denen die Fliegen aktiv waren, waren also nur eine Untergrenze - das absolute Minimum - für die Zeit, die seit dem Tod vergangen war. In Wirklichkeit lag der Todeszeitpunkt vermutlich viel länger zurück, darauf wiesen die anderen Verwesungsmerkmale eindeutig hin.
Auf meine Zeugenaussage folgte die meines früheren Studenten Bill Rodriguez. Er hatte die Zeit seit dem Tod unabhängig von mir ebenfalls auf fast einen Monat geschätzt - auch das auf Grund des kalten Wetters und der Tatsache, dass die Leichen relativ unzugänglich waren. Goodwin hoffte, das Insektenproblem sei durch uns beide aus der Welt geschafft. Als die Anklage zwei Tage später ihren Teil der Beweisaufnahme abschloss, war ich bereits wieder in Knoxville. Jetzt war die Verteidigung an der Reihe.
Ohne dass Bill Goodwin zuvor etwas davon gewusst hätte, bot die Verteidigung einen Überraschungszeugen auf: den Insektenforscher Neal Haskell, der kurz zuvor zusammen mit mir im Fall des Zoomannes von Knoxville als Zeuge der Anklage aufgetreten war. Er war 1998 zum zweiten Mal auf die Body Farm gekommen, um seine Vergleichsuntersuchungen der Insektenbesiedelung von menschlichen Leichen und Schweinekadavern auszuweiten. Jetzt sagte Neal in einem Mordfall zu Gunsten der anderen Seite aus. Das ist nichts Ungewöhnliches: Die Welt der forensischen Wissenschaft ist klein, und früher oder später wird immer irgendjemand, mit dem man in einem Fall zusammengearbeitet hat, in einem anderen auf der Gegenseite stehen. Aber als Bill Goodwin mich anrief und mir berichtete, was im Richterzimmer besprochen worden war, nachdem er Widerspruch gegen Haskells Auftritt als Überraschungszeuge eingelegt hatte, traf es mich völlig unvorbereitet: Der Verteidiger hatte angekündigt, Haskell werde nicht nur seine Behauptung unterstützen, wonach die Todesfälle sich nach dem 2. Dezember ereignet hatten, sondern er wolle auch bezeugen, dass ich im Fall des Zoomannes einen Meineid geleistet hätte - ich hätte gelogen, um der Anklage zu helfen.
Wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten sind das eine, der Vorwurf des Meineides aber ist ganz etwas anderes. Es war ein Schlag ins Gesicht, widersprach es doch allem, wofür ich persönlich und beruflich einstand. 40 Jahre zuvor hatte Dr. Wilton Krogman mir eine grundlegende ethische Regel eingebläut: In einem Prozess war es nicht meine Aufgabe, der Anklage oder der Verteidigung zu Diensten zu sein; meine Funktion - meine einzige Funktion - bestand darin, die Wahrheit aufzudecken und so dem Opfer eine Stimme zu geben. Als Bill Goodwin mich im Fall Perry zum ersten Mal nach meiner Schätzung des Todeszeitpunktes fragte, bat ich ihn sofort, mir nichts über Theorien oder Vermutungen der Anklage zu
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