Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Oberfläche und arbeiten sich nach innen vor. Mit Hilfe der Insekten und Mikroorganismen holt die Natur uns auf äußerst effiziente Weise zurück: In einem heißen Sommer in Tennessee kann aus einer frischen Leiche in nur zwei Wochen ein nacktes Skelett werden. Die Gesichter von Darryl und Annie waren von Madenschwärmen bedeckt. Das Fleisch war bereits größtenteils abgebaut, sodass der Schädel hervortrat. Große Massen von Maden waren auch an anderen Stellen zu erkennen, wo sich dem Obduktionsbericht zufolge die Stichwunden - und damit Blut - befunden hatten.
Schmeißfliegen sind ganz wild auf Blut. Sie riechen es über Kilometer hinweg. Auf einer blutigen Leiche sammeln sie sich bei warmem Wetter zu Tausenden. Sie fressen dort und legen Eier, aus denen nur wenige Stunden später die Maden schlüpfen.
Darryl hatte Verteidigungswunden an den Händen sowie die tödlichen Stiche an Brust und Bauch. Bei Annie hatte man an verschiedenen Körperstellen insgesamt acht Stichwunden gefunden. Alle waren stark von Maden besiedelt. Das Gleiche galt für Krystals Genitalien - gerade solche dunklen, feuchten Körperöffnungen sind bei Insekten besonders beliebt. Ansonsten war die Leiche des Mädchens nicht so stark verwest wie die Eltern, und das hatte zwei Gründe: Da sie viel kleiner und schlanker war, verweste sie auch langsamer, ein Phänomen, das wir bei unseren Untersuchungen auf der Body Farm immer wieder beobachtet hatten. Und da sie nicht erstochen, sondern erdrosselt wurde, war kein Blut ausgetreten; deshalb war sie für Fliegen und Maden weniger anziehend.
Manche Maden auf den Tatortfotos waren mehr als einen Zentimeter lang und befanden sich im »dritten Larvenstadium«, wie Insektenforscher es nennen. Einfach ausgedrückt, bedeutet das: Sie waren ausgereift und standen kurz davor, sich zu verpuppen und in erwachsene Fliegen zu verwandeln. Daraus konnte ich ablesen, dass die Maden ungefähr zwei Wochen zuvor aus den Eiern geschlüpft waren. Das wusste ich aus Untersuchungen, die wir in den achtziger Jahren auf der Body Farm durchgeführt hatten. Damals hatte Bill Rodriguez, einer meiner Doktoranden, monatelang die Reihenfolge und den zeitlichen Ablauf der Insektentätigkeit auf Leichen beobachtet.
Aber so genau ich auch hinsah - mit bloßem Auge und mit einem Vergrößerungsglas -, eines fehlte auf den Fotos: Ich konnte keine einzige Puppenhülle finden. Das machte die Sache komplizierter. Nach dem Verwesungszustand zu urteilen, waren die Perrys Mitte November umgebracht worden. Die Maden dagegen - und das Fehlen von Puppenhüllen - ließen darauf schließen, dass der Mord sich um den 2. Dezember ereignet hatte. Und vom 2. Dezember an hatte der Verdächtige ein Alibi. Die Anklage hatte eine Menge Arbeit vor sich. Ich auch.
Goodwin hatte mich am 18. Mai zum ersten Mal angerufen. Zwei Wochen später machte ich mich auf die zehnstündige Fahrt nach Mississippi zum Prozess gegen den Mann, den man des Mordes an der Familie Perry verdächtigte.
Darryl, Annie und Krystal hatten in Marrero gelebt, einem Vorort von New Orleans; dort wohnten auch Darryls Mutter Doris Rubenstein und ihr Mann Michael, ein Taxifahrer. Anfang der neunziger Jahre hatte Michael - Mike - knapp 200 Kilometer nördlich in dem 130 Meter hoch gelegenen Summit eine Hütte als Zufluchtsort für ruhige Wochenenden gekauft. Im November 1993 war die Familie Perry für einen längeren Aufenthalt dorthin gefahren.
Am 5. November 1993 brachte Mike sie mit dem Auto zu der Hütte und setzte sie ab. Das junge Paar hatte Verwandten erzählt, sie hätten Eheprobleme und müssten ein wenig Ruhe haben, um die Sache ins Reine zubringen. Nun gut, Ruhe hatten sie in Summit wirklich: Abgesehen von der Hauptstraße, die den Ort in zwei Teile zerschnitt, gab es nur wenige befestigte Straßen, und die Bürgersteige wurden bei Sonnenuntergang hochgeklappt. In der Hütte gab es nicht einmal ein Telefon.
Mike fuhr im Laufe des November noch zweimal nach Summit, um nachzusehen, ob sie für die Heimreise bereit wären. Beide Male fand er die Hütte aber dunkel und verschlossen vor, und er hatte vergessen, seinen eigenen Ersatzschlüssel mitzubringen. Wie er später berichtete, hatte ein Nachbar ihm bei seinem zweiten Besuch erzählt, die Perrys seien in einen verrosteten braunen Van gestiegen und mit zwei Männern, die verdächtig nach Drogenhändlern aussahen, weggefahren. Seitdem hatte sie niemand mehr gesehen. Am 16. Dezember schließlich fuhr Mike noch
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