Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
erzählen. Wäre ich der Ansicht gewesen, dass die Familie am 2. Dezember oder noch später getötet worden war, hätte ich das gesagt und jede beliebige Folge in Kauf genommen; die Nachricht, dass Haskell meine Ehrlichkeit anzweifelte, machte mich wütend.
Noch beunruhigender als meine persönliche und berufliche Verärgerung jedoch war, dass Haskells Aussage der Argumentation der Anklage erheblich schaden konnte: Wenn die Geschworenen Haskells Vorwurf Glauben schenkten, ließen sie möglicherweise eine ganze Reihe überzeugender forensischer Indizien außer Acht. Goodwin hörte sich am Telefon meinen Wutausbruch an und bat mich dann, noch einmal nach Mississippi zu fliegen und den Vorwurf des Meineides zurückzuweisen. Keine zehn Pferde hätten mich zurückhalten können.
Wieder saß ich in dem Gerichtssaal in Magnolia, und dieses Mal wartete ich darauf, meinen guten Namen verteidigen zu können. Aber als Haskell aussagte, beschuldigte er mich weder des Meineides noch der Lüge; er sagte nur, ich hätte bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes von Patricia Johnson einen Fehler gemacht. Vielleicht hatte der Anwalt der Verteidigung nur geblufft, vielleicht hatte auch Goodwin etwas missverstanden. Was der Grund auch sein mochte, ich war immer noch erpicht darauf, die näheren Umstände zu erläutern: Noch einmal berichtete ich über die Vorgänge an der Cahaba Lane an jenem Tag, als ich verkündete, die Leiche sei zu frisch für mich; ich erzählte, wie ich dann auf die hartnäckigen Nachfragen eines Polizisten die Vermutung geäußert hatte, sie habe ein bis zwei Tage dort gelegen. Wie im Huskey-Prozess wies ich ausdrücklich darauf hin, dass ich die Leiche sofort dem medizinischen Sachverständigen übergeben hatte, ohne sie auch nur zu berühren. Mindestens zum hundertsten Mal bereute ich diese voreilig geäußerte Vermutung, die mir seither immer wieder zu schaffen gemacht hatte.
Als ich anschließend wartete und mir Sorgen machte, geschah etwas Erstaunliches. Rubensteins Anwalt rief die Pathologin aus der Behörde des medizinischen Sachverständigen des Kreises in den Zeugenstand. Im Rahmen ihrer Aussage zeigte die Pathologin vergrößerte Fotos von der Obduktion. Diese Aufnahmen hatte ich nie gesehen - ich wusste bis zu jenem Augenblick noch nicht einmal, dass sie überhaupt existierten.
Und plötzlich war es da. In einer Nahaufnahme von Krystals Gesicht und Kopf sah ich es zwischen ihren Haarwurzeln: ein winziges braunes Gebilde, ungefähr von der Größe und Form eines wilden Reiskorns. Bei näherem Hinsehen erkannte ich noch mehr solche Objekte. Von meinem Platz im Gerichtssaal beugte ich mich über die Brüstung und flüsterte Bill Goodwin zu: »Sie müssen den Prozess unterbrechen. Sie müssen mich noch einmal in den Zeugenstand rufen.«
Schnell beantragte Goodwin eine Beratungspause, sodass wir uns unterhalten konnten. Aufgeregt erklärte ich ihm, was ich auf dem Foto gesehen hatte: die leeren Puppenhüllen, nach denen ich die ganze Zeit gesucht hatte - Gehäuse, welche die Maden zurücklassen, wenn sie ihren Lebenszyklus vollenden und sich in erwachsene Fliegen verwandeln. Wie eine Raupe, die sich in einen Kokon einspinnt und dann als Schmetterling wieder hervorkommt, so zieht sich auch eine Made in ein schützendes Gehäuse zurück, bevor ihr Flügel wachsen. Es ist paradox: Wir finden Raupen niedlich und Schmetterlinge schön, aber von Maden fühlen wir uns abgestoßen, und vor Fliegen ekeln wir uns. Für mich haben auch Maden und Fliegen ihre eigene Schönheit. Das galt insbesondere in diesem Fall: Es war, als wären meine Gebete hier, mitten im Gerichtssaal, erhört worden.
Die Puppenhüllen waren der wissenschaftliche Beweis dafür, dass Schmeißfliegen schon vor mehr als zwei Wochen an den Leichen gefressen und ihre Eier abgelegt hatten. Selbst wenn man davon ausging, dass sie in die kalte, solide gebaute Hütte eingedrungen waren und dann schon nach wenigen Minuten die ersten Eier abgelegt hatten, konnte Annie Perry am 2. Dezember nicht mehr in einer Bar in New Orleans gewesen sein. Wie Darryl und Krystal, so war auch sie am 2. Dezember bereits tot und lag verwest in der Hütte. Endlich hatten wir den entomologischen Beweis; jetzt passten alle Teile des forensischen Bildes zusammen.
Am 3. Februar 2000 zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück. Nur fünf Stunden später stand das Urteil fest. Sie hatten Rubenstein des schweren Mordes in drei Fällen für schuldig befunden. Für
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