Der König der Diamanten
gedacht.«
Clayton musste im Stillen beipflichten: Auch er hätte mit Sicherheit ein- oder zweimal geschossen, wenn ein bewaffneter Mann in seinem Haus herumgerannt wäre und Leute abgeknallt hätte. Andererseits bewahrte er in seinem Schlafzimmer keine Waffe auf. So wie Franz Claes.
»Das war nicht das erste Mal, dass Sie versucht haben, Mr. Swain eine Kugel zu verpassen, stimmt’s?«, konstatierte Trave.
Darauf war Claes allerdings vorbereitet.
»Nein, Inspector, es war das erste Mal. Nach dem Mord an Mr. Mendel habe ich die Waffe abgefeuert, um Mr. Swain zum Stehen zu bringen, nicht um ihn zu töten. Diesmal war das anders.«
Trave beließ es dabei. Er strich sich wieder übers Kinn und dachte nach. Clayton fragte sich schon, ob das vielleicht für ihn das Zeichen zum Übernehmen sein könnte, da stellte Trave seine nächste Frage.
»Wo schläft Ihre Schwester, Mr. Claes?«
»Ganz oben, von Katyas Zimmer aus noch weiter nach hinten.«
»Ich verstehe. Noch weiter hinten. Dann lassen Sie mich jetzt Folgendes fragen: Warum schossen Sie zweimal in diese Richtung, obwohl Sie wussten, Sie riskieren vielleicht, dass jemand heraustritt und getroffen wird?«
Claes antwortete nicht. In seine Wangen stieg eine leichte Röte. Zum ersten Mal sah er jetzt so aus, als fühle er sich unbehaglich.
»Sie hätten sie töten können, nicht wahr?«, fragte Trave.
»Das war ein angespannter Moment«, sagte Claes schließlich. Und etwas matt fügte er hinzu: »Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken.«
»Sie dachten nicht nach«, wiederholte Trave mit einem genüsslichen Lächeln. »Na, dann bedanke ich mich für Ihr Entgegenkommen, Mr. Claes. Das wäre es mal fürs Erste. Aber bitte verlassen Sie das Haus nicht, ohne uns Bescheid zu geben. Es könnte sein, dass wir Sie noch brauchen.«
Claes stand auf und brachte seine polierten Schuhe mit einemhörbaren Klacken zusammen, nickte den Beamten kurz zu und humpelte zur Türe. Ohne einmal zurückzublicken, verließ er den Raum.
»Schleimiger Mistkerl«, sagte Trave. »Das Humpeln täuscht der nur vor. Beim letzten Mal konnte er um einiges schneller gehen.«
»Was stört Sie denn so sehr an ihm, Sir?« Clayton hatte das Gefühl, diese Frage stellen zu müssen. Nicht dass er sich im Laufe der Vernehmung wirklich für Franz Claes hätte erwärmen können, doch das, was der Mann sagte, ergab im Großen und Ganzen durchaus Sinn – auch wenn unverständlich blieb, dass er nicht an seine Schwester gedacht hatte, als er die Schüsse abfeuerte. Noch unverständlicher war aber Traves Feindseligkeit.
»Es geht nicht darum, ob mich etwas stört oder nicht stört: Der Punkt ist, ich traue ihm nicht. Er hat Geheimnisse – da bin ich sicher.«
»Geheimnisse?«, fragte Clayton überrascht.
»Also gut,
ein
Geheimnis«, sagte Trave. »Er wurde vor ein paar Jahren mal bei einer Hausdurchsuchung aufgegriffen – lange vor dem Mord an Mendel. Ein Typ namens Bircher hatte drüben in Cowley ein ganzes Haus voller minderjähriger Jungen. Einer der Beamten sagte mir, Claes würde dafür eine Klage an den Hals kriegen. Doch dann kam Anweisung von oben, ihn zu verwarnen und laufen zu lassen – weil nicht vorbestraft oder irgendwas in der Art. Was da genau abging, weiß ich nicht, jedenfalls kam dann Osman ins Spiel, der die eine oder andere rührselige Story parat hatte und für unseren Beamtenfonds spendete. Keine Ahnung. Jedenfalls ist das lange her. Und jetzt schauen wir mal, was die Schwester zu sagen hat.«
Kapitel Acht
Jana Claes saß in der Eingangshalle auf einem Holzstuhl mit hoher Lehne und wartete darauf, an die Reihe zu kommen. Sie hatte Zeit gehabt, sich anzuziehen und trug nun ihr gewohntes, rabenschwarzes Kostüm, das von grauen Strähnen durchzogene Haar hinten in einem Knoten hochgesteckt. Ihr ohnehin schon fahles Gesicht war noch blasser als sonst, doch abgesehen davon war ihr kaum anzusehen, dass es mitten in der Nacht war und sie aufgewacht war, weil wenige Meter neben ihr ein Mord begangen wurde. Ein bisschen bemüht wirkte vielleicht, wie ruhig sie ihre Hände hielt. Als sei sie innerlich nicht entspannt, sondern erstarrt. Als würde sie nur mit großer Anstrengung Haltung bewahren.
Sie hielt die Augen auf den Boden gerichtet und sah erst auf, als ihr Bruder aus dem Salon trat und für einen Moment neben ihrem Stuhl stehenblieb.
»Nimm dich vor dem Älteren in acht. Der will dich reinlegen«, sagte er leise in schnell hingeworfenem Flämisch. »Denk an das, was ich gesagt
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