Der König der Diamanten
zu zeigen. War das der Schock, ihr sprachliches Unvermögen oder womöglich etwas ganz anderes?
»Zwischen Ihrem Schlafzimmer und dem von Miss Osman liegt nur ein Raum. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Also haben Sie die Schüsse laut und deutlich gehört?«
»Ja.«
»Wie viel Zeit, würden Sie sagen, lag zwischen dem ersten Schuss, dem, der Sie aufgeweckt hat, und den folgenden?«
»Ich weiß nicht. Ich habe doch geschlafen.«
»Genügend Zeit, um das Bett zu verlassen?«
»Ja.«
»Aber Sie gingen nicht nach draußen?«
»Nein, ich hatte Angst.«
»Ja, das kann ich verstehen.« Trave nickte und schwieg für einen Moment mit gerunzelter Stirn – er überlegte, in welche Richtung er weiterfragen sollte.
»Sagen Sie uns, was Sie hier machen, Miss Claes. Abgesehen von der Porzellanpflege«, sagte er mit einem Lächeln.
»Ich kümmere mich um das Haus. Ich gebe den Bediensteten Anweisungen. Mein Schwager, Mr. Osman, legt größten Wert auf …« Jana brach ab, um den richtigen Ausdruck zu finden, und Trave war ihr behilflich.
»Korrektkeit?«
»Ja.«
»Und bezahlt Mr. Osman Sie für Ihre Hilfe?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Jana beleidigt.
»Er gibt Ihnen gar nichts?«
»Ich bekomme eine Zuwendung, aber nur, weil ich zur Familie gehöre. Das ist keine Bezahlung. Und ich brauche ja auch kein Geld«, fügte sie hinzu.
»Ach so? Und warum nicht?«
»Ich wohne hier. Und ich gehe nicht weg.«
»Wer besorgt denn die Einkäufe?«
»Dafür haben wir Personal. Wie ich bereits gesagt habe.«
»Und doch gingen Sie mit Miss Osman einkaufen an dem Tag, als Mr. Mendel getötet wurde, oder nicht? Das haben Sie mir doch erzählt, als wir uns das letzte Mal trafen.«
Jana sah verwirrt aus. Zwei kleine rote Flecken bildeten sich auf ihren Wangen, und sie musste schlucken, bevor sie auf Traves Frage antworten konnte. Ganz offensichtlich war sie nervöser, als sie sich nach außen hin gab.
»Das war eine Ausnahme«, sagte sie. »Katya brauchte etwas aus der Stadt, und mein Bruder bat mich, mitzufahren, damit sie nicht alleine ist.«
»Aber im Allgemeinen verlassen Sie das Haus nicht. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Niemals, Miss Claes?«
»Ich gehe in die Kirche. Sonntags«, sagte Jana zögerlich, als hätte man ihr ein Geständnis abgerungen, das sie gar nicht machen wollte.
»Ja, das habe ich fast schon vermutet«, sagte Trave. Er hatte das Kruzifix bemerkt, das Jana um den Hals trug, und er erinnerte sich an ihr Schlafzimmer, in das ihn vor zwei Jahren sein Rundgang durchs Haus geführt hatte, damals, nach dem Mord an Ethan Mendel. Tatsächlich hatte er eine stärkere Erinnerung an den Raum als an seine Besitzerin: die schweren Eichenmöbel, das Fehlen von jeglichem Krimskrams, die leeren Wände. Nur über dem Bett hing ein Kreuz mit dem blutüberströmten Christus. Das Zimmer einer Nonne, hatte er damals gedacht. Oder einer Person, die Nonne hatte werden wollen.
»Und wer bringt Sie zur Kirche? Fahren Sie selbst?«, fragte Trave in beiläufigem Ton und ohne sich darum zu kümmern, dass Clayton neben ihm unruhig auf seinem Sitz hin- und herzurutschen begann.
»Nein. Mein Bruder fährt mich.«
»Und begleitet er Sie auch hinein?«
»Nein, er wartet draußen.«
»Ich verstehe. Und am Ende der Messe nehmen Sie an der Kommunion teil?«
Anstelle einer Antwort bedeckte Jana mit der Hand das silberne Kreuz auf ihrer Brust. Trave hätte schwören können, dass das eine unbewusste Geste war, und einen Moment lang hatte er fast schon Mitleid mit ihr.
»Nehmen Sie teil?«, insistierte er.
Jana antwortete nicht gleich, sah dann jedoch widerstrebend auf, um Traves Blick zu begegnen, und schüttelte den Kopf.
»Aber gehen Sie zur Beichte? Beichten Sie dem Pfarrer Ihre Sünden und bitten Sie Gott um Vergebung?«, fuhr Trave fort.
Wieder schüttelte Jana den Kopf. »Nein«, sagte sie sanft, kaum hörbar.
»Und, Miss Claes, wollen Sie mir vielleicht sagen, warum nicht?«, fragte Trave leise, indem er sich zu ihr vorbeugte.
Doch diesmal antwortete Jana nicht und blickte weiterhin zu Boden, was bei Clayton den Impuls auslöste, sich jetzt besser einzuschalten. Trave klang wie ein Vertreter der Spanischen Inquisition und nicht wie ein Polizeibeamter, der ein Verbrechen aufklärt. Dies hier war immer noch England – die religiösen Ansichten von Miss Claes gingen niemanden etwas an.
»Wie gut kannten Sie Miss Osman?«, fragte er.
»Ziemlich gut. Ich kümmere mich um sie«, sagte Jana und richtete mit sichtbarer
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