Der König der Lügen
Biegung stieg die Geschwindigkeitsbegrenzung auf fünfundfünfzig Meilen, und ich gab Gas, drehte die Fenster herunter und vermisste meinen eigenen Hund, der jetzt seit zwei Jahren unter der Erde war. Ich versuchte, nicht daran zu denken, aber es war schwer. Er war ein verdammt guter Hund gewesen. Also konzentrierte ich mich auf das Fahren. Ich folgte der gelben Linie vorbei an kleinen Backsteinhäusern und Wohnsiedlungen mit trendigen Namen wie Plantation Ridge und Saint John's Wood.
»Die Landeier kommen in die Stadt«, sagte meine Frau immer und vergaß dabei, dass mein Vater ebenfalls aus ärmlichsten ländlichen Verhältnissen stammte.
Zehn Meilen weit draußen stieß ich auf das verblichene, zerschossene Straßenschild zur Stolen Farm Road. Ich bremste und bog ab. Mir gefiel das Knirschen der Reifen auf dem Kies, das Vibrieren des Lenkrads unter meinen Händen. Die Straße führte durch eine Wand von Bäumen zu einem unberührten Ort.
Stolen Farm war alt, wie das County alt war: seit Generationen im Besitz derselben Familie, mit hohen Zedern an Zäunen, die vor dem Bürgerkrieg gezogen worden waren. Die Farm war einmal riesig gewesen, aber alles ändert sich. Die Zeit hatte sie auf unter dreißig Hektar zusammengestutzt, und ich wusste, dass sie sich am Rand des Bankrotts bewegte, und zwar schon seit Jahren. Von der Familie war nur noch Vanessa Stolen übrig, und sie galt von Kindesbeinen an als armes Farmergesindel.
Welches Recht hatte ich, meine Sorgen hierher zu tragen? Ich kannte die Antwort — wie immer. Überhaupt keins. Aber es war verlockend. Tau lag auf dem Gras, und Vanessa würde mit ihrem Kaffee auf der hinteren Veranda sitzen. Mit sorgenvollem Gesicht würde sie auf die Felder hinausschauen, bei deren Anblick sich jeder andere wieder jung fühlte, und sie würde unter dem alten Baumwollhemd, das sie immer trug, nackt sein. Ich wollte zu ihr gehen, weil ich wusste, sie würde mich nehmen, wie sie es immer getan hatte, und mir sagen, dass alles gut werden würde.
Und ich würde ihr glauben wollen, wie ich es so oft getan hatte, aber diesmal würde sie sich irren. Verdammt schiefliegen würde sie.
In einer Kurve der Zufahrt bremste ich und fuhr dann im Schritttempo weiter, bis ich das Haus sehen konnte. Es sackte in sich zusammen, und es tat weh, neue Bretter vor den Fenstern im Obergeschoss zu sehen, wo ich früher nachts gestanden und auf den fernen Fluss hinausgeschaut hatte. Anderthalb Jahre waren vergangen, seit ich das letzte Mal auf der Stolen Farm gewesen war, doch ich erinnerte mich an ihre Arme und daran, wie sie sich um meine nackte Brust geschlungen hatten.
»Woran denkst du?«, hatte sie mich gefragt, ihr Gesicht über meiner Schulter geisterhaft in der Fensterscheibe. »Wie wir uns kennengelernt haben«, hatte ich gesagt. »Denk nicht an solche abscheulichen Sachen«, hatte sie geantwortet. »Komm ins Bett.«
Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte, aber noch immer brannte auf der vorderen Veranda ein Licht, und ich wusste, es brannte für mich.
Ich legte den Rückwärtsgang ein, blieb jedoch noch einen Augenblick stehen. Ich hatte stets gespürt, wie sehr Vanessa mit diesem Ort verbunden war. Sie würde niemals weggehen, das wusste ich, und eines Tages würde man sie auf dem kleinen Friedhof begraben, der in ihrem Wald versteckt lag. Und ich dachte, es musste doch schön sein zu wissen, wo man die Ewigkeit verbringen würde. Ich fragte mich, ob solches Wissen Frieden brachte. Möglich war es.
Ich wendete und fuhr davon, und wie immer ließ ich ein kleines Stück von mir zurück.
Als ich wieder auf Asphalt war, verlor die Welt ihre weichen Konturen, und die Fahrt zum Büro erschien mir grell und lärmend. Seit neun Jahren arbeitete ich in einem schmalen Büro in einer Reihe von anderen Bürogebäuden, die bei den Einheimischen nur die »Anwaltsstraße« hieß. Das Gericht war gleich um die Ecke, und gegenüber stand die alte Episkopalkirche. Abgesehen von zwei Sekretärinnen nebenan war die Kirche das einzig Attraktive am ganzen Block. Ich kannte jedes Stückchen ihrer Buntglasfenster auswendig.
Ich parkte den Wagen und schloss ihn ab. Der Himmel wurde dunkler. Vermutlich stimmte der Wetterbericht aus Charlotte, der für den späten Vormittag Regen angekündigt hatte; irgendwie erschien es mir auch passend. An der Schwelle meines Büros drehte ich mich noch einmal um und warf einen Blick auf den roten Lehm, der wie Lippenstift an den Reifen meines Wagens klebte.
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