Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
Vom Netzwerk:
Dann ging ich hinein.
    Meine Sekretärin — die einzige, die ich noch hatte — empfing mich an der Tür mit Kaffee und einer Umarmung, dann brach sie in hilfloses Schluchzen aus. Aus welchen Gründen auch immer, sie hatte meinen Vater geliebt, und sie stellte sich gern vor, dass er sich irgendwo an einem Strand ein bisschen erholte, bevor er wieder in ihr Leben zurückstürmte. Sie berichtete, dass mehrere Anrufe gekommen seien, hauptsächlich von anderen Anwälten, die mir ihr Beileid aussprechen wollten, aber auch von ein paar Lokalzeitungen und sogar von einem Reporter aus Raleigh. Ermordete Anwälte, so schien es, hatten immer noch einen gewissen Nachrichtenwert. Sie gab mir einen Stapel Akten, die ich für das Gericht brauchte — hauptsächlich Verkehrssachen und ein jugendlicher Straftäter —, und versprach mir, die Stellung zu halten.
    Ein paar Minuten vor neun verließ ich das Büro; ich hatte vor, erst im Gerichtsgebäude zu erscheinen, wenn der Betrieb schon angefangen hatte, um unnötige Begegnungen mit Kondolenzbekundungen oder müßiger Neugier zu vermeiden. Ich betrat das Gericht durch das Gerichtsbüro. Das winzige Wartezimmer davor war schon um diese Zeit voll von den üblichen Taugenichtsen und verkrachten Existenzen. Zwei Männer waren mit Handschellen an die Bank gekettet; die beiden Polizisten, die sie bewachten, teilten sich eine Zeitung und sahen gelangweilt aus. Ein Ehepaar beeidete eine Anzeige wegen Körperverletzung gegen den halbwüchsigen Sohn, und zwei Männer um die sechzig waren blutig und zerzaust, aber zu müde oder zu nüchtern, um noch wütend aufeinander zu sein. Mindestens die Hälfte der Leute kannte ich vom Bezirksstrafgericht. In der Branche nannten wir sie »lebenslängliche Mandanten«: Alle paar Monate waren sie drinnen oder wieder draußen, immer wegen irgendwelcher geringfügiger Verstöße: Hausfriedensbruch, Körperverletzung, einfacher Drogenbesitz und so weiter. Einer von ihnen erkannte mich auch und bat mich um meine Karte. Ich klopfte auf meine leeren Taschen und ging weiter.
    Vom Gerichtsbüro aus erreichte ich den neuen Teil des Gebäudes, wo das Bezirksgericht tagte, kam an dem Verkaufsstand vorbei, den eine halbblinde Frau namens Alice führte, und schlüpfte dann durch eine unauffällige Tür mit einem kleinen Schild, auf dem stand: ZUTRITT NUR FÜR ANWÄLTE. Hinter dieser Tür war eine zweite Tür, die mit einer Zifferntastatur gesichert war.
    Ich betrat den Gerichtssaal von der Rückseite her und empfing das erste Kopfnicken von einem der Gerichtsdiener. Es war wie ein Signal; plötzlich schauten alle Anwälte im Saal mich an. Ich sah so viele ehrlich besorgte Gesichter, dass ich für einen Augenblick erstarrte. Wenn das Leben beschissen ist, vergisst man leicht, wie viele gute Menschen es auf der Welt gibt. Sogar die Richterin, eine attraktive ältere Frau, unterbrach das Aufrufen der Strafsachen und bat mich zu sich nach vorn, um mir in leisem und bemerkenswert sanftem Ton ihr Beileid auszusprechen. Zum ersten Mal sah ich, dass ihre Augen sehr blau waren. Sie drückte mir leicht die Hand, und ich senkte einen Moment lang verlegen den Blick und sah die kindlichen Kritzeleien auf ihrem Notizblock. Sie bot mir an, meine Fälle zu vertagen, aber das lehnte ich ab. Sie tätschelte mir noch einmal die Hand und sagte, Ezra sei ein großartiger Anwalt gewesen, und dann schickte sie mich auf meinen Platz.
    In den nächsten zwei Stunden gab ich mich traurig und handelte Vereinbarungen für Mandanten aus, die ich vielleicht nie zu Gesicht bekommen würde. Dann ging ich nach nebenan ins Jugendgericht. Mein Mandant war zehn Jahre alt und wegen Brandstiftung angeklagt, weil er einen verlassenen Wohnwagen abgefackelt hatte, den ältere Kids benutzten, um dort zu kiffen und zu bumsen. Natürlich hatte der Junge es wirklich getan, aber er schwor, es sei ein Versehen gewesen. Ich glaubte ihm nicht.
    Der Assistent der Staatsanwaltschaft, der die Aufsicht führte, war ein großmäuliger Blödmann, der erst vor zwei Jahren sein Examen gemacht hatte. Er machte sich wichtig und war bei Anklägern und Verteidigern gleichermaßen unbeliebt — ein Idiot, der nicht kapierte, dass es beim Jugendgericht weniger um die Überführungsquote geht als darum, den Kids zu helfen. Der Richter war ein ehemaliger Staatsanwalt, der das Kind für schuldig befand, aber wie wir alle, die wir noch ein halbes Hirn besitzen, der Ansicht war, der Junge habe der Öffentlichkeit einen Dienst

Weitere Kostenlose Bücher