Der König der Lügen
darüber.«
Seufzend lehnte sie sich zurück, und einen Augenblick lang fürchtete ich, zu direkt gewesen zu sein. Die Grenze zwischen uns war unscharf, und ich wollte sie nicht überschreiten. Als Jean wieder sprach, tat sie es jedoch ohne Groll, und ich begriff, dass sie sich Zeit nahm und wollte, dass ich es verstand.
»Ich habe das Gefühl, durch einen langen, dunklen Tunnel gegangen zu sein«, sagte sie. »Es tut nicht mehr weh, aufrecht zu stehen. Als hätte in mir etwas losgelassen.« Sie ballte die Fäuste vor dem Bauch und spreizte die Finger dann auseinander — eine zehnblättrige Rose. »Es ist schwer zu erklären«, sagte sie, aber ich glaubte zu verstehen. Ezra war nicht mehr da, und vielleicht war damit etwas zum Abschluss gekommen. Vielleicht auch nicht. Doch es kam mir nicht zu, Jean zu heilen. Das war eine Wahrheit, die ich inzwischen begriffen hatte. Das musste sie selbst tun, und als ich ihr Lächeln sah, glaubte ich, dass sie dazu fähig war.
»Und Alex?«, fragte ich.
»Wir gehen weg aus Salisbury«, sagte sie. »Wir müssen einen Ort für uns allein finden.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
Jeans Blick war ausdrucksvoll und sehr klar. »Wir haben unsere Probleme wie alle andern auch, aber wir befassen uns damit.«
»Ich will dich nicht verlieren«, sagte ich.
»Ich habe das Gefühl, wir haben uns gerade wieder gefunden, Work. Alex versteht das. Es ist eins der Dinge, mit denen wir uns befasst haben, und auch wenn sie immer Probleme mit Männern haben wird, schwört sie, bei dir eine Ausnahme zu machen.«
»Kann sie mir verzeihen, dass ich in ihrer Vergangenheit herumgewühlt habe?«
»Sie weiß, warum du es getan hast. Sie respektiert deine Gründe, nur darfst du es ihr gegenüber niemals erwähnen.«
»Dann ist alles okay zwischen uns?«
»Wohin wir auch gehen, du wirst da immer willkommen sein.«
»Danke, Jean.«
»Nimm noch ein Stück Eis.«
»Okay.«
Sie gab mir das Eis, und ich spürte, dass meine Lider schwer wurden. Plötzlich war ich erschöpft und schloss die Augen, während Jean im Zimmer herumging. Ich war fast eingeschlafen, als sie wieder sprach.
»Da ist eine Karte, die du vielleicht lesen möchtest. Mehr ein Brief, eigentlich.« Ich öffnete die Augen einen Spalt breit. Jean hielt einen Umschlag in der Hand. »Von Vanessa«, sagte sie.
»Was?«
»Sie war ein Weilchen hier, sagte aber, sie könne nicht bleiben. Doch sie wollte, dass du das hier bekommst.« Jean reichte mir den Umschlag. Er war dünn und leicht. »Sie meinte, du würdest es verstehen.«
»Aber ich dachte...« Ich brachte den Satz nicht zu Ende.
»Hank hat sie im Krankenhaus in Davidson County gefunden. Sie war in der Futterhandlung in Lexington gewesen und überquerte die Straße, als jemand sie anfuhr.«
»Wer?«
»Das weiß niemand. Vanessa erinnert sich nur an einen schwarzen Mercedes, der aus dem Nichts kam.«
»Geht es ihr gut?«
»Ein paar Rippenbrüche und Prellungen am ganzen Körper, doch sie wird's überleben. Sie haben sie über Nacht in der Klinik behalten. Und sie war ziemlich zugedröhnt von den Schmerz-mitteln.«
»Ich dachte, sie ist tot.«
»Das ist sie nicht. Und sie war ziemlich geschafft, als sie dich so sah.«
Plötzlich konnte ich nichts mehr sehen. Der Brief in meiner Hand war meine Hoffnung auf eine Zukunft, die ich verloren geglaubt hatte. Ich wollte ihre Worte lesen, wollte die Buchstaben sehen, die ihre Hand geschrieben hatte. Aber meine Finger waren zu ungeschickt.
Jean nahm mir den Umschlag aus der Hand. »Gib her«, sagte sie.
Sie riss ihn auf, nahm das zusammengefaltete Blatt Papier heraus und gab es mir in die Hand. »Ich bin draußen, wenn du mich brauchst«, sagte sie. Ich hörte, wie sich die Tür schloss. Ich blinzelte, und als ich wieder klar sehen konnte, las ich den Brief, den Vanessa mir dagelassen hatte. Er war kurz.
Das Leben ist eine qualvolle Reise, Jackson, und ich weiß nicht, ob wir noch mehr Schmerz ertragen können. Aber den Tag, an dem wir uns kennengelernt haben, werde ich niemals bereuen, und wenn du bereit bist zu reden, bin ich bereit zuzuhören. Vielleicht kann aus all dem noch etwas Gutes kommen. Ich hoffe es, nur weiß ich zu gut, wie grausam das Schicksal ist. Was auch immer passiert, vergiss eines niemals: Jeden Tag danke ich Gott dafür, dass du lebst.
Ich las es dreimal, und das Blatt lag auf meiner Brust, als ich einschlief.
Beim Aufwachen fühlte ich mich zehnmal besser. Es war spät; draußen war es dunkel,
Weitere Kostenlose Bücher