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Der König der Lügen

Der König der Lügen

Titel: Der König der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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Selbstzufriedenheit zerbrechen, und stellte mir einen verrückten Augenblick lang vor, wie ich nackt durch das Haus rannte. Und bei der nächsten blöden gesellschaftlichen Zusammenkunft würde ich dann mit den Freundinnen meiner Frau plaudern und sehen, ob sie wohl so tun würden, als wäre es nie geschehen. Das würden sie — deshalb behielt ich meine Kleider an. So würde jede Einzelne von ihnen mir nächste Woche beim Essen oder bei einem Drink in die Augen sehen und mich allen Ernstes fragen können, wie die Kanzlei laufe, und dann könnten sie mir sagen, wie schön die Beerdigung gewesen war.
    Ich wollte lachen, und ich wollte jemanden erschlagen.
    Aber ich tat weder das eine noch das andere. Ich ging wieder ins Haus, mischte mich unter die Gäste und unterhielt mich. Ich behielt meine Kleider an, und wenn ich mich lächerlich machte, so sagte es mir niemand. Irgendwann ging ich, und als ich in meinem Wagen saß, die Fenster heruntergedreht, das violette Licht auf mir wie eine zweite Haut, da dankte ich Gott für eines: dass ich — sternhagelvoll und ertrinkend in Gesichtern und sinnlosen Worten —den einen Gedanken nicht unwiederbringlich ausgesprochen hatte, der mich verfolgte. Und als ich mir im Rückspiegel forschend in die blutunterlaufenen Augen schaute, gab ich zumindest mir selbst gegenüber zu, dass ich zu wissen glaubte, wer meinen Vater ermordet hatte.
    Motiv. Mittel. Gelegenheit.
    Alles war da, wenn man wusste, wo man hinschauen musste.
    Aber ich wollte nicht hinschauen. Hatte es noch nie gewollt. Also drehte ich den Rückspiegel hoch und zur Seite. Dann schloss ich die Augen und dachte an meine Schwester und an Zeiten, die bei all ihrer Einfachheit nicht weniger hart gewesen waren.
    »Alles okay?«, fragte ich Jean.
    Sie nickte, Tränen tropften von ihrem kleinen spitzen Kinn und versickerten in ihrer weißen Jeans wie Regen im Sand. Ihre Schultern krümmten sich mit jedem Schluchzer tiefer, bis sie gebeugt und gebrochen aussah, und ihr Haar hing gerade so tief herunter, dass es den oberen Teil ihres Gesichts verdeckte. Ich riss meinen Blick von den kleinen grauen Tränenkringeln los und bemühte mich, nicht auf das Blut zu schauen, das sich zwischen ihren Beinen ausbreitete. Rot und nass durchtränkte es die neue Hose, auf die sie so stolz war und die unsere Mutter ihr an diesem Morgen zu ihrem zwölften Geburtstag geschenkt hatte.
    »Ich habe Dad angerufen, und er hat gesagt, er kommt uns holen. Bald. Ich versprech's dir. Er hat es gesagt.«
    Sie antwortete nicht, und ich sah, wie der rote Fleck dunkler wurde. Wortlos zog ich meine Jacke aus und breitete sie über ihren Schoß. Der Blick, den sie mir daraufhin zuwarf, machte mich stolz, ihr großer Bruder zu sein — so, als änderte ich alles. Ich legte ihr den Arm um die Schultern und tat, als wäre ich nicht zu Tode erschrocken.
    »Es tut mir leid«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
    »Es ist alles okay«, sagte ich. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
    Wir waren in der Stadt, in der Eisdiele. Mom hatte uns dort abgesetzt, bevor sie für den Nachmittag nach Charlotte fuhr. Wir hatten vier Dollar für Eis, und danach wollten wir zu Fuß nach Hause gehen. Ich wusste kaum, was bei Mädchen die Periode war. Als ich das erste Blut sah, dachte ich, sie habe sich verletzt, und erst dann wurde mir klar, dass ihr schon seit einer Weile langsam die Tränen in die Augen stiegen. »Schau nicht hin«, sagte sie und senkte den Blick auf die Tränenflecke.
    Dad kam nicht, und nach einer Stunde schlang sie sich meine Jacke um die Hüften, und wir gingen nach Hause. Es waren fast drei Meilen.
    Zu Hause schloss Jean sich im Badezimmer ein, bis Mom zurückkam. Ich saß vorn auf der Veranda und versuchte den Mut aufzubringen, meinem Vater zu sagen, was für ein Scheißkerl er war — weil er sich nicht um Jean gekümmert und weil er einen Lügner aus mir gemacht hatte —, aber am Ende sagte ich nichts.
    Wie ich mich hasste!
    Als ich aufwachte, war es fast dunkel. Da war ein Gesicht im Seitenfenster, und ich starrte blinzelnd auf die schwere Brille und den dichten Bart. Instinktiv wich ich zurück, nicht nur, weil der Mann so hässlich war.
    »Gut«, grunzte er. »Ich dachte, Sie sind vielleicht tot.«
    »Was ...«, sagte ich.
    »Sollten nicht im Wagen schlafen. Ist gefährlich.« Er musterte mich von oben bis unten und warf einen Blick auf den Rücksitz. »Ein gescheiter Junge wie Sie sollte das wissen.«
    Das Gesicht zog sich zurück, und dann

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