Der Koenig geht tot
angehört hatte.
»Endlich sagt’s mal einer!« rief er. »Ich hab auch keinen Bock mehr auf den ganzen Kram. Wenn ich gewußt hätte, daß ich als Schützenkönig hier rumsitzen muß und aufpassen soll, daß meine Weste nicht verrutscht, dann hätte ich gerne darauf verzichtet.«
Mit diesen Worten zog er sein Jackett aus, pfefferte seine Krawatte auf den Tisch, brüllte noch: »Los, Jungs, auf zur Theke!« und verschwand in der Menge. Elke warf mir einen giftigen Blick zu. Ich lächelte siegessicher zurück. Zehn Minuten später saß ich mit Alexa und Max in dessen Taxi. Ich hatte mein erstes Schützenfest hinter mich gebracht. Im Auto stellte ich Mutmaßungen darüber an, mit welchen Federn der Hut des vorneweg marschierenden Schützenobersts geschmückt gewesen war. Ich tippte auf heimische Gänsefedern und wollte gerade ein Urteil der Fachfrau Alexa einholen, als Max unerwartet bremste. Ich rammte in meinen Gurt. Ein Auto vor uns hatte urplötzlich gestoppt. Jetzt sprangen zwei Leute aus dem Auto und hasteten zum Straßengraben. Erst jetzt realisierten wir, was los war. Da lag jemand am Straßenrand. Offensichtlich verletzt. Alexa und ich sprangen ebenfalls aus dem Auto, Max griff geistesgegenwärtig nach seinem Handy, um einen Krankenwagen anzufordern. Alexa und ich erreichten den Verletzten fast gleichzeitig mit den Insassen aus dem anderen Auto – Schützenfestbesucher, einer mit der obligatorischen Kappe, der andere mit einem Lebkuchenherz um den Hals. Auch der Verletzte hatte eine Schützenkappe aufgehabt, die jetzt neben seinem Kopf lag. Er lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und stöhnte leise. Unter seinem Kopf sickerte etwas Blut hervor. Plötzlich überkam mich ein Schauder. Ich kannte den Mann. Es war Wilfried König, der Bekannte von Max, ›der König‹ halt. Auch die beiden Typen aus dem Auto erkannten ihn jetzt und wurden noch aufgeregter. Einer versuchte, auf den Schwerverletzten einzureden. Alexa hockte sich sofort hin und fühlte den Puls des Verletzten. Wir andern waren froh, daß sich überhaupt etwas tat. »Los, einen Verbandskasten!« brüllte Alexa. Max kam schon angelaufen und hatte den Kasten unterm Arm. Alexa hob minimal den Kopf des Verletzten. »Die Blutung ist nicht allzu stark«, murmelte sie. »Wir legen keinen Verband an! Das würde ihn weiter schwächen.« Wilfrieds Stöhnen wurde trotzdem leiser. Wir standen wie gelähmt da und konnten kaum etwas tun. Jeder lauschte ständig nach dem Krankenwagen. Intuitiv spürten wir, daß Wilfrieds Zustand sich verschlechterte. Alexa fühlte noch einmal den Puls. »Redet mit ihm!« sagte sie hektisch. »Er darf nicht das Bewußtsein verlieren. Redet mit ihm!«
Max beugte sich ganz nah zu Wilfried hinunter. Es sah aus, als wolle er ihm ins Ohr flüstern. »Mach jetzt nicht schlapp!« flehte er mit krächzender Stimme. »Mensch, König, mach jetzt bloß nicht schlapp!« Königs Atem verschlechterte sich weiter. Mittlerweile röchelte er nur noch leise. »Wilfried!« sagte Max. »Ich bin’s Max. Wir haben uns gestern auf dem Schützenfest wiedergetroffen. Wilfried, hörst du mich?« Der Mann mit dem Lebkuchenherz hielt sich die Hände vor den Mund. Er starrte von oben auf Wilfried hinunter. »Verdammt!« sagte er mit echter Verzweiflung in der Stimme. »Der König – der König geht tot!«
3
Eine Stunde später saß ich im sogenannten Partyraum der Schützenhalle Sankt Sebastianus und schaute betreten auf die bräunlichen Fliesen, die hier verlegtwaren. Neben mir saß Max und rauchte, Alexa stand am Fenster und blickte hinaus. Außer den beiden jungen Polizeibeamten, die in ein Gespräch mit den Männern aus dem Auto vor uns vertieft waren, standen noch Offizielle aus der Schützenbruderschaft da, die mit gedämpfter Stimme debattierten. Sie beratschlagten, wie der weitere Festverlauf vor sich gehen sollte. Mußte man hier und jetzt die Leute nach Hause schicken? Sollte man den heutigen Sonntag wie gehabt ausklingen lassen und morgen das Vogelschießen absagen? Oder sollte das Schützenfest durchgeführt werden, als wäre nichts gewesen? Ich machte mir nicht die Mühe zu verfolgen, wer welchen Standpunkt vertrat. Statt dessen schlenderte ich zu Alexa hinüber und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie sah blaß aus. Ich wußte, daß sie die Situation mit dem schwerverletzten König schon hundertmal durchdacht hatte. Daß sie sich schon genauso oft gefragt hatte, ob sie etwas hätte besser machen können. Dabei hatte ihr
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