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Der König muß sterben

Der König muß sterben

Titel: Der König muß sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Espen
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aus dem Unterholz hervor. Er war so mächtig und unruhig, dass er das gesamte Blickfeld vor den beiden Reitern in Bewegung zu versetzen schien.
    Henri rief dem König eine schnelle Warnung zu. Der mächtige Keiler erblickte sie und rammte seine Hufe in den Waldboden. Er grunzte anhaltend. Dann jedoch machte er kehrt und floh.
    »Er gehört mir!«
    Der König nahm die Verfolgung auf. Henri ritt, ohne zu zögern, hinterher. Er hob unwillkürlich die Saufeder und hielt sie im angewinkelten Arm. Sie verfolgten den flüchtigen Schwarzkittel, der mit kraftvoller Behändigkeit über Stock und Stein sprang. Längst waren die anderen hinter ihnen nicht mehr zu hören.
    Die rasende Jagd dauerte fast eine Stunde lang, die Pferde mussten ihr ganzes Können zeigen. Zu Tode erschöpft blieb das Wildschwein schließlich stehen. Seine Flanken zitterten. Der Keiler drehte sich um, er wandte sich in seiner Todesangst dem Verfolger zu, seine mächtigen Hauer ragten empor. Dann ging er zum Angriff über.
    Henri erstarrte. Und auch das Pferd Philipps bäumte sich auf.
    Philipp blickte Henri de Roslin an, als wollte er sagen: Jetzt gilt es, mein Freund! Dann gab er seinem Pferd die Sporen. Er griff das Wild an, hob die Wurflanze, zielte sorgfältig auf das jetzt wieder einhaltende Tier und warf sie.
    Aber er verfehlte den Keiler.
    Jetzt griff der Schwarzkittel erneut an. Mit gesenktem Schädel, die Hauer vorgereckt, raste er auf den König zu. Einer seiner Hauer traf den königlichen Schimmel am Bein. In panischem Schmerz bockte das Pferd und warf den König ab. Mit unwillkürlichem Entsetzen musste Henri mit ansehen, wie der Reiter stürzte – und im Steigbügel hängen blieb.
    Vor Schreck und Schmerz blind, galoppierte das Reittier durch den Wald davon. Es schleifte den hilflosen Reiter durch das Unterholz. Henri vernahm die Schmerzensschreie Philipps. Sofort versuchte er, das fliehende Pferd einzuholen.
    Die rasende Jagd ging weiter, jetzt mit umgedrehten Vorzeichen, der Jäger war zum Opfer geworden.
    Plötzlich sah Henri, wie der Fuß des Königs aus dem Steigbügel rutschte. Philipp blieb zusammengekrümmt im Gras liegen. Der Schwarzkittel stierte ihn mit roten Augen an. Dann schnaubte er und verschwand. Das Pferd verlangsamte erst nach einer Weile seinen Galopp.
    Henri sprang mitten im Ritt von seinem Pferd.
    Philipp blickte ihm erstaunlich munter entgegen, er schien keine Glieder gebrochen zu haben. Aber er blutete aus Schürfwunden am Hals, im Gesicht und an den Händen, und sein blondes Haar war verschmutzt.
    »Hilf mir auf, mein Freund!«, sagte er. »Nun ist doch nicht erlegt worden, was es wert war, erlegt zu werden.«
    Henri tat, wie ihm geheißen wurde. Er nahm die warme Hand des Königs, packte ihn und richtete ihn auf. Wäre er nur ein Jäger, der einen Unfall hatte, dachte er, würde ich ihn pflegen und schützen. Ja, ich würde mein eigenes Leben für seines geben. Aber er ist König Philipp der Schöne. Der, der meine Brüder vernichtet hat.
    Henri versuchte sich der Bilder zu erwehren, die sein Inneres zu überfluten begannen. Folterszenen, zerbrochene Gliedmaßen, zerstörte Gesichter – und die Scheiterhaufen, auf denen Unschuldige wie sich bewegende Fackeln abgebrannt waren.
    Ein seltsamer Laut verließ Henris Inneres. Es klang wie ein Hilferuf. Wie von jemandem, dem die Lippen vor Liebe bebten. Aber es war ein anklagender Laut des Hasses.
    Er hob die Saufeder hoch über seinen Kopf. Sein König sah ihn ungläubig an.
    Und dann ließ Henri die Waffe für die Wildschweinjagd niedersausen.
    Philipps Blick schien zu fragen: Warum tust du das, Jude?! Woher kommt dein Hass gegen mich?! Henri schloss die Augen, um diesen erstaunten, beinahe sanften Blick nicht mehr sehen zu müssen. Er stieß noch einmal zu.
    Und noch einmal.
    König Philipp von Frankreich, der Schöne, sank im Alter seines sechsundvierzigsten Lebensjahres auf den vor Kälte dampfenden, nach Natur und Leben duftenden Waldboden nieder. Er streckte noch einmal die Hand aus, vielleicht aus verzweifelter Abwehr, vielleicht um den letzten Zipfel des Lebens zu fassen, das jetzt unbarmherzig aus ihm herausglitt.
    Ein Leben, an dem er sich selbst so schmählich vergangen hatte.
    Dann machte er seinen letzten Atemzug, und sein Körper streckte sich.
    Henri erhob sich langsam. »Erst jetzt«, sagte er leise, »ist die Saujagd zu Ende, mein Herrscher!«
    Er warf angewidert die Waffe, die er nach seinen Regeln nicht hätte berühren dürfen, weil sie für die Jagd

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