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Der König und die Totenleserin3

Der König und die Totenleserin3

Titel: Der König und die Totenleserin3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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aus dem Mund des Mannes drangen, der sein Herr gewesen war, hätten auch nur das Zwitschern der im Schilfgras versteckten Ammern sein können.
    »Als der Junge sechzehn war, erschien es Lord Sigward unerlässlich, dass sich sein Sohn die Bewunderung des Landes und die Anerkennung des allmächtigen Gottes verdienen sollte, indem er ihn auf einen Kreuzzug schickte. Er rüstete ihn freigebig mit Waffen und Zubehör aus, schenkte ihm ein schönes Schlachtross … das zu groß für ihn war.« Zum ersten Mal bebte die Stimme des Abtes, er holte tief Luft und fand seinen Rhythmus wieder. »Dann ein Abschiedsfest mit den Nachbarn, damit sie dem Sohn Glück wünschen und den Vater rühmen konnten, der zwar in seinem Stolz schwelgte, aber zugleich auch dem Jungen grollte, der offensichtlich glücklich war, ihn zu verlassen.«
    Eine Libelle huschte dicht über das Wasser und landete wie ein schillernder Edelstein auf dem Dollbord des Kahns, ehe sie wieder davonflog.
    »Vier Jahre vergingen ohne ein Wort. Andere Väter erhielten von Heimkehrern aus dem Heiligen Land Nachrichten über ihre Sprösslinge, manchmal, dass sie am Leben und wohlauf waren, manchmal, dass sie tot waren. Lord Sigward jedoch hörte nichts und dachte allmählich, dass auch sein Sohn gestorben war, vielleicht in der Schlacht von Askalon, in der so viele christliche Ritter erschlagen wurden, als die Sarazenen die Stadt zurückeroberten. Falls ja, wäre das ein Grund für ihn, ein weiteres Fest abzuhalten, diesmal zum Gedenken an den Toten – denn welche Ehre für Lord Sigward, dass sein Kind sein Leben bei dem Bemühen geopfert hatte, das Heilige Land wieder in die Hand Gottes zu geben.«
    Adelia beobachtete einen Eisvogel, der auf einem Erlenzweig gesessen hatte und sich plötzlich in einen regenbogenfarbenen Pfeil verwandelte, als er ins Wasser hinabschoss, um mit einem Frosch im Schnabel wieder aufzutauchen.
    Es wurde heiß. Abt Sigward warf seine Mönchskapuze zurück, damit Luft seinen tonsurierten Kopf umspielen konnte. Sein Überschwang hatte ihn nicht verlassen, aber seine Finger, die er im Schoß gefaltet hielt, waren weiß verfärbt – er näherte sich dem Höhepunkt.
    Aus Selbstschutz versuchte Adelia, sich die klare Stimme, die über dem Wasser erklang, als die irgendeines Geschichtenerzählers auf einem Markt vorzustellen. Vor zwanzig Jahren, sagte sie sich. Sie sind seit zwanzig Jahren tot. Der Mann hier ist nicht derselbe Mann, der sie getötet hat.
    Aber er war es.
    Es sei der Abend vor dem Fest des heiligen Stephanus gewesen, sagte der Abt, eine stürmische Nacht. Die Weihnachtsfestlichkeiten waren vorüber. Als gütiger Herr, der er war, habe Lord Sigward seinen Dienern bereits erlaubt, zum jährlichen Besuch ihrer Heimatdörfer aufzubrechen.
    »Außer Hilda« – der Abt tätschelte den Kopf der Frau, die neben ihm kauerte –, »die sich weigerte, ihn zu verlassen, und Godwyn« – er lächelte zu dem Mann hoch, der den Kahn stakte –, »der sich weigerte,
sie
zu verlassen, war niemand im Haus.«
    Lord Sigward speiste also allein in seiner Halle zu Abend, als Godwyn, der als Türhüter diente, ein lautes Klopfen hörte und nachschaute, wer gekommen war. Zwei junge Männer wurden hereingeführt, und Lord Sigward lag plötzlich in den Armen seines Sohnes, dessen tropfnasser Regenumhang nasse Flecken auf dem Seidengewand seines Vaters hinterließ. Lachend und laut, stellte der Junge seinen stattlichen und groß gewachsenen Freund vor. »Wir sind seit drei Monaten von Outremer hierher unterwegs, Vater, und wir sind sehr, sehr hungrig.«
    Sogleich verspürte Lord Sigward Zorn in sich hochsteigen. Wenn sein Sohn Boten vorausgeschickt hätte, dann hätte er die Nachbarn einladen können, um den Jungen als Helden zu empfangen. Er übte jedoch Nachsicht und rief nach Hilda, die Speis und Trank bringen sollte.
    Als er den jungen Männern beim Essen zusah, wuchs sein Zorn.
    »Er hätte sich freuen sollen«, sagte der Abt. »Sein Sohn war zu dem Mann geworden, als den er sich ihn immer gewünscht hatte. Die Jahre im Heiligen Land hatten dem Jungen Selbstvertrauen gegeben. Er sah Lord Sigward in die Augen. Er hatte keine Angst mehr. Er war Lord Sigward ebenbürtig – und Lord Sigward hasste es.«
    Und dann war da noch eine Herzlichkeit im Lächeln seines Sohnes, wenn dieses seinem Freund galt, die fehlte, wenn er seinen Vater ansah.
    Beide jungen Männer hatten blasse kreuzförmige Flecken auf ihren Tuniken, wo das Kreuzfahrerkreuz

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