Der König und die Totenleserin3
Gedächtnis währt länger und anscheinend auch das eines walisischen Barden. Als König Henry uns durch einen Boten ausrichten ließ, wir sollten zwischen den Pyramiden graben, dachte ich: Ist Nemesis endlich gekommen? Nun, ich werde es hinnehmen. Aber nein, ich erhielt eine weitere Gnadenfrist, denn die Leichname wurden für die von König Arthur und Guinevere gehalten. Ich dachte, der Herr hat mir erlaubt, noch schwerer für Ihn zu arbeiten. Vielleicht war das Feuer, das meine Abtei zerstört hat, Seine letzte Strafe, und indem Er ermöglicht, dass mein Sohn und sein Freund für andere gehalten werden, können die beiden und ich die Pilger zurück nach Glastonbury holen.«
Verblüfft riss Adelia ihren Blick von der Insel vor ihnen los und sah den Abt an. Er hatte gelacht, tatsächlich gelacht.
»Unser Herr hat Humor«, sagte er zu Rowley, »wisst Ihr das? Die wahre Nemesis sandte er in Gestalt eines Sarazenen und einer Frau – Vertreter einer Rasse und eines Geschlechts, die der alte Sigward verachtete.«
Adelia wandte sich wieder ab, dankbar, dass die Stimme endlich verstummte. Jetzt waren nur noch die Schreie eines Gänseschwarms zu hören, der landeinwärts flog.
»…
Deinde, ego te absolvo a peccatis tuis in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.«
Rowley sprach die Absolution mit einer Stimme, die sie kaum wiedererkannte.
Sigward sagte: »Und nun zu diesem armen Kind hier. Ich würde mir wünschen, dass sie von den Sünden freigesprochen wird, die aus meinen entsprangen. Komm, Hilda, danach wirst du dich besser fühlen!« Er hätte die Frau neben seinem Knie ebenso gut ermuntern können, eine Arznei zu schlucken und sich zusammenzureißen.
Adelia hörte Hildas Stimme irgendetwas stammeln, und dann die Rowleys, gepresst, die ihr im Namen Gottes Vergebung gewährte.
Lazarus Island war nun ganz nah, und Adelia konnte erkennen, warum es seine Bewohner gefangen hielt. Der Brue wurde hier träge, zog sich zwischen der Insel und vorgelagerten Sandbänken hindurch, die alle an ihrem tiefsten Punkt einen Tümpel hatten. Sphagnum-Moos, das sich so wunderbar zur Behandlung entzündeter Wunden eignete, gedieh in üppigen Matten.
Aber hier war nichts gesund. Die Matten waberten und stanken nach fauliger Vegetation. Der Treibsand darunter machte schmatzende Geräusche, als lutschte ein Greis an den Zähnen.
Und … »Oh nein, seht nur!«, rief Adelia.
Ein Hirsch zappelte in einer der Matten. Seine Vorderhufe schlugen auf das Moos und den Sand darunter ein. Er warf den Kopf mit dem Geweih hin und her, während er versuchte, den Hinterleib aus dem Sumpf zu befreien. Er brüllte gequält.
»Helft ihm! Können wir ihm nicht helfen?«
Der Abt sah Godwyn an. »Können wir?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wir könnten ihn doch rausziehen«, bettelte Adelia.
»Zu schwer«, sagte Godwyn. »Der Sand … der saugt nach unten. Verzehnfacht das Gewicht. Da könnten wir auch versuchen, ein Haus wegzuschleppen. Würde uns mit in die Tiefe ziehen.«
»Er wird ersticken.« Es war unerträglich, das mit anzusehen, mit anzuhören.
»Nein«, sagte Godwyn wieder sanft. »Er geht nicht unter. Er treibt jetzt und wird weiter so treiben. Die Flut kommt bald – wir sind hier nämlich in einem Mündungsarm. Dann wird es ertrinken, das arme Tier. Is ein leichterer Tod.«
Adelia glaubte das nicht. Der Hirsch wohl auch nicht. Sie konnten sein Brüllen noch hören, als sie um die Insel herumfuhren und auf einen langen Steg zuhielten.
Dahinter lag ein Gelände, das so ordentlich aussah wie ein Bauerndorf mit reetgedeckten Hütten aus Flechtwerk. Es gab Gärten und Felder, auf denen Rinder und Schafe weideten, eine kleine Steinkirche mit Glockenturm. Was immer er auch sonst getan hatte, seine Leprakranken hatte Abt Sigward so gut versorgt, wie er nur konnte.
Jemand läutete die Kirchenglocke, und Menschen strömten zur Anlegestelle, riefen dem Abt Willkommensgrüße zu.
Rowley drehte sich zu Adelia um. »Sie sehen nicht aus wie Leprakranke.«
Auf diese Entfernung vermutlich nicht, dachte Adelia. Manche von ihnen waren wohl noch gehfähig und konnten arbeiten; andere waren vielleicht gar nicht befallen, aber dazu verurteilt, ihr Leben hier zu verbringen, weil sie mit der Krankheit in Berührung gekommen waren.
Jedenfalls waren weder Emma noch Roetger, noch Pippy unter ihnen. Aber sie sah Kinder. Oh Gott, da waren Kinder …
»Kinder?«, hörte sie Rowley fragen.
»In der Tat«, bestätigte der Abt froh.
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