Der König von Havanna
dann schritt die Mutter ein.
»Ihr beiden werdet mich noch ins Grab bringen! Ins Grab bringen werdet ihr beiden mich! Tito, lass sie in Ruhe, quäl das Mädchen nicht weiter! Schluss jetzt!«
In einer Minute war Rey auf der Straße. Seine anfängliche Absicht war es, in aller Ruhe nach Jesús María zu gehen und das Huhn mit Magdalena zu kochen. Doch in dem Moment lehnte sich Elenitas Mutter über einen Balkon und begann vom sechsten Stock auf die San Lázaro herab nach der Polizei zu rufen.
»Haltet ihn! Haltet ihn! Polizei, er hat ein Huhn gestohlen! Polizei! Gibt’s denn hier nicht einen Dreckspolizisten, wenn man einen braucht? Wo steckt denn die Polizei? Haltet ihn, er hat ein Huhn gestohlen!« Als Rey das hörte, lief er schnellstens zur Bushaltestelle auf der Manrique. Gerade fuhr ein Bus. Eine Schar lärmender Leute stieg ein. Jemand sagte, er fahre nach Guanabo. Auch Rey stieg ein. Als der Schaffner kam, um zu kassieren, stotterte Rey etwas. Er wusste, dass man ihn rauswerfen würde. Neben ihm stand ein so ungewöhnlich gekleideter Mann, so korrekt und konventionell, dass er aussah wie ein protestantischer Pastor aus der Provinz. Mühsam erklärte Rey dem Schaffner: »Komm schon, Mann, gib mir eine Chance bis da vorne. Ich habe kein Geld.«
»Nein, nein, wenn du nicht zahlst, steigst du gleich wieder aus.«
Der protestantische Pastor schaltete sich in das Gespräch ein: »Einen Moment, nicht aussteigen. Ich zahle für ihn.« Rey empfand ein Gefühl der Dankbarkeit für diese unerwartete Güte. Er wurde verlegen und konnte ihm nicht danken. Er sah zu Boden und ging ganz nach hinten durch.
Es war jetzt richtig Nacht. Vielleicht zehn, elf, zwölf. Nie kümmerte sich Rey darum, Stunde, Tag oder Monat zu wissen. Für ihn war alles gleich. Die Nacht war dunkel. Rey blieb in Guanamo, der letzten Haltestelle. Er dachte daran, zum Strand zu gehen, ein Feuer zu entfachen und sein Huhn zu grillen. In der Besserungsanstalt hatte er das mehrmals getan, mit Enten, Kaninchen, Hühnern und Katzen. Er brauchte Salz und Zitronen. Der Strand war völlig leer und dunkel, aber ein Kiosk war noch offen. Zwei Typen und zwei Nutten saßen an einem Tisch vor dem Kiosk und tranken Bier. Weitere Kunden oder sonst jemanden gab’s hier nicht. Nur dieses Licht an dem riesigen, weitläufigen schwarzen Strand. Zwei Angestellte hinter dem Tresen. Rey kam näher. Er war sicher, sie würden ihn hinauswerfen wie immer. Aber nein. Sie fanden es lustig, dass so ein Typ sie um Salz bat, um sein Huhn zu braten, und sie lachten.
»Verdammt, Kumpel, du bist ein echter Kämpfer. So muss es sein.«
Der Angestellte stellte Salz, Senf und Ketchup auf ein Tablett und gab es ihm. Rey war selig. Er suchte sich ein paar trockene Äste und bereitete sich eine Feuerstelle. Er zerschlug den Kopf des Huhns an einem Stein, rupfte es, ritzte es mit einem spitzen Holzspan auf, reinigte die Eingeweide im Meerwasser. Dann bestrich er es mit Salz, Senf und dem Ketchup. Da fiel ihm ein, dass er gar keine Streichhölzer hatte, und ging zurück zum Kiosk. Der Typ dort half ihm, zwei Holzscheite zu entfachen. Er tat es mit Vergnügen. Er langweilte sich, und zumindest war dieser vagabundierende Hühnerdieb unterhaltsam. Das Huhn gelang perfekt. Nach dem Abendessen unternahm Rey einen Spaziergang am Strand. Er war müde, hörte dem sanften Rauschen der Wellen auf dem Sand zu. Es wehte kein Lüftchen und war sehr warm. Er zog sich seine Tennisschuhe aus und spürte den feuchten Sand, das warme Wasser. Er zog die Shorts aus, warf alles in den Sand und watete völlig nackt ins Meer. Das laue schwarze Wasser umfing ihn. Ihn befiel ein merkwürdiges, wollüstiges Gefühl. Er schloss die Augen und fühlte sich vom Tode umschlungen. Nicht das geringste Lüftchen wehte. Warmes Wasser und unendliche Dunkelheit, die ihn umgab. Angst zu ertrinken, weil er nicht schwimmen konnte. Er hielt die Augen geschlossen und gab sich hin, ließ sich mit dem Mund nach unten, das Gesicht im Wasser, treiben. Das köstliche Gefühl, für immer zu gehen, zog ihn an.
So blieb er eine Zeit lang. Ließ sich treiben. Hin und wieder hob er das Gesicht hoch, um zu atmen, dann verlor er sich wieder. Er war versucht, nicht mehr zu atmen, das Gesicht unter Wasser zu lassen. Nicht zu atmen, sich in das schwarze Wasser zu versenken. Sich zu versenken in die Stille, sich zu versenken in die Leere. Plötzlich streifte ein kalter, schlüpfriger, harter Körper seine Füße und Beine. Es war ein
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