Der König Von Korsika
Morast, sobald es regnete, als wollte es nie mehr aufhören, und
in der kahlen Kammer des Pfarrers das Menetekel des kohlkopfgroßen grünen Pilzes an der geweißten Decke, die Kuhlen im Holz des Betschemels und auf dem rohgezimmerten Bord die Gläser mit den Ratten und Lurchen in Alkohol. Und immer wieder die Angst vor Brandschatzung, vor einer Klinge, die ihr ins Fleisch fuhr, die tierische, zehrende Angst, den Kindern könne etwas zustoßen, eine Krankheit sie dahinraffen, man läßt sie zur Ader, ihr hellrotes Blut sprudelt, plötzlich sind sie weiß wie ein Laken und verenden ohne ein letztes Wort, ohne Sakrament, oder ein Geschwür wächst ihnen, und sie verfaulen von innen heraus bei lebendigem Leib, und ihre Augen rufen sie, ihre Mutter, um Hilfe an, und sie kann nichts tun.
Manchmal hielt sie wie eine Erstickende den Kopf ins Geißblattdickicht oder im Juni in den Blütenkelch einer Päonie, um einmal einen Duft wiederzufinden, so köstlich und sauber wie die frischgebleichten Laken ihrer Kindheit, oder der Spekulatius in der Eschenholztruhe oder das Lavendelsäckchen in ihrem Wäscheschrank daheim in Lüttich.
Nie verbrachte sie eine ruhige Nacht, weil sie dem kommenden Tag zuversichtlich entgegenblicken konnte. Kein Trost als der paradoxe der wieder und wieder gelesenen Seligpreisungen der Schrift, und keine Zuflucht als ihr verbarrikadiertes Herz. Niemand nahm ihr die Last der Verantwortung ab, ihr Vater hatte sie im Stich gelassen, dann ihr Mann, nur Gott nicht, aber Gott hilft denen, die sich selbst zu helfen wissen.
Schmallippig beichtete sie: Wenn die Welt mir die Mittel verweigert, das zu tun, was ich dennoch tue, um so schlimmer für die Welt. Schuldbewußt sah die Welt sie für die Ärmsten des Sprengels der eigenen Bedürftigkeit abgetrotzte Wunder an kühler Nächstenliebe und unpersönlicher Fürsorge tun, aber da es in Gelddingen keine Wunder gibt, war Amalia Neuhoff bis über den Kopf verschuldet,
beim Bäcker so gut wie bei der Bank, der sie ihr Haus verpfändet hatte, und wenn sie noch frei herumlief, so eigentlich nur deswegen, weil ihre Persönlichkeit die Gläubiger Scham darüber empfinden ließ, daß diese Frau ihnen Geld schuldete.
Seine ganze Kindheit hindurch liebte Theodor seine Mutter wie eine Frucht den Baum liebt, an dem sie hängt. Amalia war überzeugt, daß das Schicksal ausschließlich eine Konsequenz des Charakters ist, und da ihr Sohn ein Abbild ihres verewigten Gatten war, die gleichen sanften Augen, das gleiche fellweiche dunkle Haar, die gleichen vollen Lippen, bemühte sie sich, den Charakter Theodors von den Schlacken der väterlichen Schwächen zu reinigen. Denn dies war Amalias Glaube: Auserwählte sind keine Märtyrer. Wer Lorbeeren erwerben will, muß zunächst einmal dauern und überleben und durfte sich nicht, wie Alfons, einfach dahinraffen lassen, als hätte es sonst keinen gegeben, der mit dem Sterben an der Reihe war.
Solange Theodor noch klein war, bestand die Erziehung seiner Mutter ausschließlich in Erzählungen. Deren zwei einzige Helden (denn Amalias Stolz wurde höchstens noch von der Beschränktheit ihrer Bildung überboten: von Odysseus hatte sie so wenig gehört wie von Lancelot, Parzival und seinem gestreiften Halbbruder Feirefitz, Iwein dem Löwenritter oder gar Don Quichotte) waren Alfons und Theodor selbst. Amélie dagegen lernte, indem sie ihrer Mutter und der Zugehfrau zur Hand ging.
Es war eine Art fünftes Evangelium, das der sechsjährige Theodor gepredigt bekam, in welchem er selbst die Hauptrolle des göttlichen Kindes spielte, und die Überzeugung setzte sich in ihm fest, er müsse dieses Buch zu einem guten Ende bringen, indem er seinen Vater in der Verantwortung für das Glück der Mutter beerbte.
Manchmal aber in der Intimität des gegenseitigen Anschauens, das sich mit der Zeit zu einem wechselseitigen
Durchschauen steigerte, beklagte Amalia sich bei ihrem Sohn bitter über den, der sie alleine in diesem Jammertal zurückgelassen hatte.
Dann wieder schien sie mitten in den intimen Träumereien mit ihrem kleinen Sohn plötzlich aus dem Schlaf zu schrecken und musterte Theodor verblüfft und mit einem fast angeekelten Ausdruck, als bemerkte sie, wie absurd die Schimäre war, ein Kind könne einen Ehemann ersetzen. Nahm Theodor diese unvermittelten Ab- oder Anwesenheiten für einen Ausdruck von Witwentrauer und erkühnte sich, seinen Trost mit zwei, drei die Gloriole seines Vaters relativierenden Wendungen zu spicken –
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