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Der König Von Korsika

Titel: Der König Von Korsika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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Regimentsfahne und von Mortagnes Kutscher eine Kupfermünze zugeworfen bekam – seine Ankunft bei der »schwarzen Madonna« war ein Ereignis. Die Bauern gafften, die Mistgabel über der Schulter, bis er im Haus verschwunden war. Der Pfarrer stand am Gartentor und verneigte sich vor dem Herrn wie ein Majordomus.
    Daß ein Herr wie Mortagne, ein Mann von nicht zu unterschätzendem Einfluß bei Hofe, die verarmte, kleine Familie unter seine Fittiche nahm, konnte Theodor weder überraschen noch verwundern. Es war, soviel stand von Anfang an fest, Amalia, die dem Grafen eine Ehre erwies, indem sie sich von ihm helfen ließ. Der Graf spielte das Spiel vollendet mit. Er brachte Brot, Fleisch, Dörrobst, Parfum, Kleider, kandierte Früchte, Nougat, Zuckermandeln, und Theodor begann zu essen, wie er nie gegessen hatte. Sein Gaumen und seine Geschmacksknospen taumelten von einer Ekstase in die nächste, mit dem Ergebnis, daß er sechs Monate nach den Hungerödemen zu einem fetten Knaben angeschwollen war, der es zeit seines Lebens nicht mehr ertrug, auf etwas warten, für etwas leiden zu müssen.
    Daß er dick und unbeweglich wurde, fiel ihm natürlich auf und paßte nicht zu seinem Selbstbild. Sah er die mageren Dorfknaben an, deren Rippen man zählen konnte, deren Schulterblätter unter der roten Haut wie Flügelstümpfe hervorstanden, und betrachtete dagegen seinen runden weißen Bauch und seine weiblich gepolsterten Hüften, so war es nicht abzustreiten, daß hier etwas fehlgelaufen war.
Er klagte seine Scham und sein Mißfallen seiner Mutter, doch Amalia leugnete sein Übergewicht schlichtweg ab. Er sei schlank, und er sei perfekt, und dabei fixierte sie ihn mit ihren Magnetaugen wie immer, wenn sie ihn in ihre Welt hinüberziehen wollte.
    Aber diesmal, fiel Theodor auf, war ihr Blick bodenloser als sonst, und indem er ihm auf den Grund ging, fühlte er sich erwachsener werden: Mitten in der opaken Dunkelheit ihrer Augen war ein Loch, in das er hineintauchen konnte wie in eine Zisterne, an deren Grund eine weitere Höhle klaffte. Und dort, in der tiefsten Tiefe, verlangte sie nicht mehr blinden Glauben, sondern warb um Komplizenschaft. Laß uns die Dinge nicht bei dem Namen nennen, den eine Welt für sie hat, die nicht die unsre ist.
    Vielleicht gewährte Amalia Theodor diesen Einblick in ihre Brunnenaugen nicht von ungefähr gerade in dem Moment, als wieder ein erwachsener Mann Anteil am Leben der Familie zu nehmen begann.
    Mit dem Eintritt Mortagnes in dieses Leben begann für Theodor ein geregelter Schulunterricht. Der Graf engagierte Monsieur de Broglie, ein ehemaliges Mitglied der Akademie, das aufgrund eines nicht näher erwähnten Skandals die Hauptstadt zu meiden und seine dortige Stellung verloren hatte, um Theodor ein privates Kolleg zu halten.
    Der lernte lesen, schreiben, rechnen, wie ein Fisch schwimmen lernt – er fand sich in seinem natürlichen Element und machte automatisch die richtigen Bewegungen. Bald stellte sich heraus, daß er auch ein Ohr für fremde Sprachen besaß. Selbst lateinische, französische und italienische Grammatik nahm er auf wie eine Pflanze den Tau.
    Der Schock war daher um so größer, als diese Überzeugung, es sei nur eine Frage der Zeit, auf die gewohnte vegetative Weise alles zu lernen, in dem Moment zusammenbrach, als De Broglie daran ging, ihn in die höheren Gründe der Mathematik einzuführen, die Algebra, die Infinitesimalrechnung,
die analytische Geometrie, die im letzten halben Jahrhundert dank der Forschungen Pascals und Fermats eine sprunghafte Entwicklung durchgemacht hatten.
    Was Theodor noch verstand, war, daß es hier zum ersten Mal in seinem Leben um Nachdenken ging, daß ein Widerstand sich ihm in den Weg stellte, taub, stumm und körperlos, den man weder umgehen noch mit schnellem Wort oder farbenprächtigem Bild beeindrucken und erweichen konnte. Die schlichte Existenz eines solchen Gegendrucks ließ ihm das Herz in die Hose fallen.
    In der ersten Stunde, beim ersten »Können Sie mir folgen, Baron?« war er genauso erschüttert wie einmal, als er dem Beispiel einiger Dorfburschen hatte folgen wollen, die sich per Klimmzug einen Ast hochhievten, und feststellte, daß er an der entsprechenden Stelle offenbar keinen Muskel besaß. Jetzt mußte er gegen ein Gefühl der Panik ankämpfen, als er spürte, daß ihm auch im Gehirn irgendwelche Muskeln zu fehlen schienen.
    Wie kam es, daß seine Mutter ihm nie von der Eventualität von Hindernissen gesprochen hatte?

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