Der König Von Korsika
die Füße zu heben und voreinander zu setzen, sondern darin, seinem Körper so viel Gewicht zu verleihen, daß er zwischen den fliegenden Sprüngen wieder zur Erde hinabsank.
Pollenschwere Hummeln kreuzten wie mit Gold beladene Galeonen durch den Akazienhain, er kam an der letzten Säule vorüber, die das Ende der Stadt markierte und hielt inne: Ein bezaubernder Anblick bot sich ihm, gegen den die Schönheit von Flora und Architektur verblaßte. Auf leichter Anhöhe, keine zwanzig Schritte entfernt, ruhte eine junge Schäferin auf der Wiese, völlig nackt, ihr Kind säugend, nur ein im Gewitterlicht grünlich phosphoreszierendes weißes Tuch um die Schultern. Sie blickte ins Leere oder nach innen, all ihre Sinne schienen in den Milchkanälen auf den saugenden Mund des Neugeborenen zuzustreben.
Er blieb ganz ungeniert stehen und betrachtete die Kauernde mit der gleichen stillen Intensität, mit der sie sich auf das schmerzlich lustvolle Ziehen in ihrer Brustwarze und das warme Gewicht in ihren Armen konzentrierte – und dann doch wieder nicht ganz, denn er spürte in einer Art innerem Jubel, daß ihm, während er zusah, die Welt nicht verlorenging. Hummelgesumm und Wind waren noch immer da, aus den Augenwinkeln sah er den ersten Blitz weit jenseits der Stadt und hörte den Donner wie fernen Geröllabgang
in den Bergen. Er spürte sich atmen und fühlte das glatte Holz in seiner Faust, empfand sein eigenes, lebendiges Gewicht, als er sich auf den Stab stützte, um bequemer zu stehen.
Voller Zuneigung und mit einem Begehren, so leicht wie eine Taube auf seiner Schulter, studierte er die weiße und rosige Haut des Mädchens auf dem grünen Untergrund, die sinnliche Querfalte über dem Bauch, die den Nabel ein wenig quetschte und in die Breite zog, den Rhombus von Schlüsselbeinen und Hals, bei dessen Anblick eine Schläfrigkeit in seinen Nacken und seine Kniekehlen kroch, den Schatten, den der linke Arm warf und der über den Bauch hinablief und in das schattige Delta zwischen den Schenkeln mündete, die beiden links und rechts der Schläfen baumelnden tressenhaften Strähnen, die die junge Mutter gewiß in gedankenverlorenen Momenten um den Finger wickelte und kaute.
Der Gedanke, daß das Schicksal die Begegnung mit seiner großen Liebe jetzt schon herbeigeführt hatte, erfüllte ihn mit einer freudigen Dankbarkeit, an der auch die Tatsache, daß die Schäferin ein Kind auf dem Arm trug, nichts änderte. Dort saß seine herbeigewünschte Zukunft, die in der Gewitterspannung von einer Zeitdimension in die andere übergesprungen war. Seine Geliebte und seinen Sohn hatte er gefunden und mußte sie nicht mehr suchen, erobern, zeugen.
Schon tat er einen Schritt über den Bach in ihre Richtung. Dann besann er sich. Ähnlich groß wie die Anziehungskraft des schönen Bildes war auch die des begonnenen Wegs und der ihn pflasternden Träume, die alle darauf warteten, unter seinen Schritten zu Begegnungen zu erwachen, ebenso betörend wie diese.
Das Versprechen auf Glückseligkeit, das von der Schäferin ausging, war verlockend, aber was sie ihm geben konnte, war nur Erfüllung. Der Wandernde dagegen durchquert
die Welt wie ein Sonnenstrahl, sein Blick läßt alles aufblühen, was zuvor geschlafen oder nicht existiert hat. Es war erregend, Frau und Kind, dem Versprechen von Lust und Ewigkeit, so schnell begegnet zu sein. Aber wenn das Schicksal jetzt schon, kaum hatte er die Stadt verlassen, solches Glück für ihn bereithielt, wie ungleich verheißungsvoller war es dann, es nicht zu ergreifen, sondern zu verzichten, sich am Verzicht zu berauschen und weiterzuwandern, weiterzusuchen, neue Bilder zu schaffen.
Ein Verzicht aus der Fülle, aus dem Vertrauen darauf, daß die Hoffnung, die immer sich Erneuernde, seine Schutzgöttin ist und sein Leben dirigiert, nicht die Gewißheit.
Im Bewußtsein, die Schöne nur noch kurz zu sehen, verweilte er einen Augenblick, atmete oder seufzte tief und nahm dann seinen Weg wieder auf, ohne noch einmal zurückzublicken.
Hinter ihm brach das Gewitter los.
Er ging auf dem Gipfel des Glücks.
1. Auflage
Genehmigte Taschenbuchausgabe Februar 2010,
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2001 by Deutsche Verlags-Anstalt
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
UB · Herstellung: SK
eISNB 978-3-641-05896-8
www.btb-verlag.de
www.randomhouse.de
Weitere Kostenlose Bücher