Der König von Sibirien (German Edition)
hinter ihm, Alexander hatte eine tischebene Fläche durchwandert, einen zugefrorenen See. Noch einige Male war das Geräusch von Flugzeugen zu hören und das nervöse Geschwirr der Helikopter. Aber die Sicht war, abgesehen vom stetigen Schneefall, der nach wenigen Minuten alle verräterischen Spuren zudeckte, zu schlecht, um seine Fährte auszumachen.
Alexander schien es zu riskant, den nach Nordosten verlaufenden Winterweg zu benutzen, auf den er vor einem Tag gestoßen war. Er wanderte parallel von ihm und hielt sich, wenn möglich, an Bodensenken, in denen man seine Eindrücke nicht so leicht ausmachen konnte. Außerdem füllte der Wind die Senken wieder schnell mit Schnee.
Sehr selten war jetzt noch ein Fahrzeug zu sehen. Wenn sich eines näherte, verschwand Alexander unter dem Laken. In der Nacht bestand keine Gefahr, entdeckt zu werden. Die wenigen Stunden am Tag, an denen es hell war, machte er Rast und suchte nach trockenen Sträuchern und Asten für ein wärmendes Feuer.
Allmählich veränderte sich das Gelände und stieg sanft an. Die ersten höheren Kuppen tauchten auf, dann Berge und schließlich schroffer Fels. Der Karte nach musste er sich nördlich von Norilsk in den westlichen Ausläufern des Putoranaplateaus befinden.
Noch war Alexanders Schlitten mit Nahrungsmitteln gut bepackt, außerdem hatte er ein Gewehr. Ab und zu gelang es ihm, einen Polarfuchs zu schießen, auch mal einen Schneehasen oder ein Schneehuhn. Einmal war sogar ein Zobel darunter mit einem ungewöhnlich dichten und weichen Fell. Alexander wunderte sich, was der so tief in der Tundra und abseits der Zirbelkiefer, deren Nüsse seine Hauptnahrung sind, zu suchen hatte. Alle Tiere zerlegte er in kleine Portionen, briet das Fleisch nur gerade an, um Brennstoff zu sparen, und gönnte sich immer ein ausgiebiges Festmahl.
Äußerst beschwerlich war der Aufstieg in eine Bergregion. Alexander hätte es einfacher haben können, wenn er sich weiter nach Norden orientiert hätte, aber er redete sich ein, in dem schwierigen Gelände sei er sicherer. Außerdem fühlte er sich noch gut bei Kräften, und das wollte er ausnutzen.
Die Einsamkeit, ein stetig größer werdendes Problem, war noch zu ertragen, Trugbilder hatte er nicht, im Gegenteil. Oft fand er Zeit, die Landschaft zu betrachten und zu beobachten, wie sich der Schnee je nach Tageszeit farblich veränderte. Bei Anbruch der Morgendämmerung gegen zwölf Uhr mittags bläulich, dann für etwa eine Stunde weiß-grau und mit beginnender Dunkelheit grau-blau bis hinüber ins Violette.
Die Zeit verging, die Tage summierten sich zu einer Woche, die Wochen zu einem Monat, und Alexanders Kräfte schwanden, obwohl ihm immer noch Füchse vor das Gewehr liefen. Es war auch mehr die totale Abgeschiedenheit, die ihm unvermittelt zu schaffen machte und ganz seltsame Verhaltensweisen mit sich brachte. Stundenlang redete und diskutierte er mit sich selbst, nur um von seinem eigentlichen Zustand abzulenken. War er guter Stimmung, dann lobte er sich auch, fühlte er sich dagegen mies, und das kam nun immer häufiger vor, konnte er erbarmungslos in seiner Selbstkritik sein. Dieses Kritisieren und Sich-in-Frage-Stellen demotivierte ihn, aber noch konnte er Widerstand leisten und sich rechtfertigen. »Ich will nur die Freiheit«, murmelte er dann stereotyp vor sich hin, »nur die Freiheit.« Das Alleinsein jedoch zermürbte seinen Erkenntnis-und Freiheitsdrang. Was nützte es ihm, frei zu sein, wenn er immer auf der Flucht war und keinem Menschen begegnete?
Als Folge seiner inneren Zerrissenheit schimpfte und tobte er und lief wild gestikulierend durch die Gegend, als hätte er einen Ring von Feinden um sich oder Starrköpfe, die es zu belehren galt. Das kostete dann auch wieder Kraft, dafür allerdings sah er seit vielen Tagen wieder mal verkrüppelte Bäume und Sträucher, für ihn in dieser Schneewüste ein Zeichen des Lebens, das den Augen und noch mehr seinem Vorrat an Brennholz gut tat.
Manchmal ließ ihn trotz der Karte die Orientierung im Stich, die ersten Trugbilder bauten sich auf. Dann wollte er sich ausziehen, ins blaue Meer stürzen oder sich in der Sonne aalen.
Oft hockte Alexander stundenlang in einer Felsspalte, neben sich ein kleines Feuer, auf das er von Zeit zu Zeit Äste und Reisig legte, und starrte vor sich hin, um irgendwann erschreckt zusammenzuzucken. Er konnte sich nicht mehr erinnern, woran er gedacht hatte. Ist das bloß die Einsamkeit oder schon eine Vorstufe des
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