Der König von Sibirien (German Edition)
nichts, auch nicht am nächsten. Dafür aber scharrte er vor dem Höhleneingang den Schnee weg und aß Moos. Da es gefroren war, schmeckte es nach nichts, höchstens etwas erdig. Und zwischendurch kaute er auf immer kleineren Stückchen der Speckschwarte, bis auch sie schließlich aufgebraucht war. Jetzt hatte er nur noch Schnee und Moos und ab und zu ein kleines Feuer. Seine Chance, die Höhle lebend zu verlassen, wurde zusehends geringer. Irgendwann würde er aus Schwäche einschlafen und nicht mehr aufwachen. Falls ihn einer finden sollte, dann brauchte der Betreffende nur an die Felswand zu schauen, um zu wissen, wer der Tote war. Alexander hatte alle seine Daten in das Gestein geritzt, und darunter noch eine Botschaft an Hellen.
Verwundert bekam Alexander mit, wie es eines Tages wieder heller wurde. Zuerst für wenige Minuten, dann immer länger. Mit neuer Hoffnung schleppte er sich aus der Höhle, die ihm nun schon als Grab vertraut war. Eine unberührte, märchenhafte Landschaft bot sich ihm. Rein der Schnee, angenehm und ungefährlich, in Richtung der tiefstehenden Sonne glitzerte er verlockend. Scharf abgegrenzt, wie ein gemalter Strich, der Horizont mit dem hellblauen Himmel, der auf der Erde zu liegen schien. Und irgendwo weiße Wolken, zart und filigran wie Chiffonvorhänge.
Alexander lehnte sich mit dem Rücken an den Fels und nahm das Bild in sich auf, ein Bild voller majestätischer Kraft. Sibirien, das schlafende Land.
Und dann träumte er. Ein Vogel war er, der über die Weite flog und nach Menschen Ausschau hielt. Er sah niemanden und war zufrieden, weil sein Reich unberührt blieb. Stundenlang schwebte er durch die Schneewüste, und Alexander gewann tatsächlich den Eindruck, als sähe er alles aus der Luft. Aber da ihm der Vogel zu schnell war, verwandelte er sich in eine Wolke, um Zeit zu finden und den Ausblick nach unten zu genießen.
Einen Grund, seinen Schlitten zu packen, die Ski anzuschnallen und sich auf die Reise zu machen, hatte er nicht, denn einen Überlebenswillen verspürte er schon lange nicht mehr. Vielleicht war es der Instinkt, irgendwo in einer Nische seines Gehirns beheimatet, der ihn dazu trieb. So stapfte .Alexander los, bei schönstem Wetter und vollkommener Windstille. Nach Südosten orientierte er sich, immer etwas links von der Sonne, die nun schon täglich zwei Stunden zu sehen war.
Zum Aufbau des Zeltes fand er nach wenigen Tagen keine Kraft mehr, der ausgeräumte Schlitten musste genügen. Schließlich hatte er auch keine Kraft mehr, den Schlitten zu ziehen. Nur mit dem Gewehr über der Schulter irrte er weiter und weiter, immer links von der Sonne. Das Gewehr wurde ihm zu schwer, er warf es weg, wie schließlich auch die Skistöcke, obwohl sie ihm Halt boten. Was ihm noch blieb, waren die Bretter an den Füßen und Pagodins Pistole, ein Ausstieg für alle Fälle.
Nachts kauerte er sich in den Schnee, er fror trotz des dicken Pelzes. Und dann legte er sich hin, um zu sterben.
Zuerst dachte er wieder, es sei eine Sinnestäuschung, als er das Tier vor sich sah. Ein Ren. Wenige Meter stand es von ihm entfernt und beäugte ihn. Deutlich erkannte er das gezackte Geweih.
Halluzinationen konnten etwas Schönes sein, so wie in diesem Fall. Alexander schloss die Augen. Zum letzten Mal. Er war bereit. Rassul, ich kann nicht mehr ...
Aber dann wollte er sich des Rens vergewissern, doch es war weg. Als er leicht den Kopf drehte, da sah er es wieder, und immer noch schaute es in seine Richtung.
Alexander versuchte sich aufzustützen, war aber zu schwach. Die Hand mit der Pistole heben ging auch nicht. Weil er den Anblick des Tieres nicht ertragen konnte, drückte er das Gesicht in den Schnee und schluchzte. Die Rettung so dicht vor den Augen, warmes Fleisch, warmes Blut, und dann seine körperliche Ohnmacht.
Jetzt schnupperte das Ren sogar an ihm. Deutlich spürte er es an der Schulter. Und es packte ihn mit einem Huf und drehte ihn auf die Seite. Aber Hufe können doch nicht zupacken.
Alexander riss die Augen auf und starrte in das faltige, gelbbraune Gesicht eines Mannes. Klein waren die Augen, hohe Wangenknochen, und auf dem Kopf eine seltsame Mütze, bunt bestickt und mit Bändeln verziert.
Der Fremde sagte etwas, aber Alexander verstand ihn nicht. Er betastete sein Gesicht und schaute ihm in den Mund. Alexander erinnerte sich, dass man dies bei Tieren tat, besonders bei Pferden, um sich zu vergewissern, ob sie den geforderten Preis auch tatsächlich wert waren.
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