Der König von Sibirien (German Edition)
im Schnee einsank.
Alexander erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal gebetet hatte. Heimlich von seinen Eltern katholisch erzogen, weil es unsozialistisch und frevelhaft und obendrein verboten war, einer Religion nachzugehen, rasselte er nun das Vaterunser herunter. Da er schnell damit fertig war, schickte er noch ein zweites hinterher und anschließend das Versprechen: Wenn ich hier heil herauskomme, werde ich mich bessern. Bessern zu was? Sich stellen?
Weiter, weiter, weiter! hämmerte es in seinem Kopf. Sanft und fließend gleiten, nur nicht mit harten Stöcken abdrücken, und das
Gewicht gleichmäßig auf beide Bretter verteilen. Aber das war auch mit streichelnden Stockeinsätzen nicht zu machen, einen Fuß musste er immer anheben. Außerdem wog der Schlitten zu viel.
Ob ich ihn zurücklasse, überlegte Alexander. Dann bin ich schneller. Ich Dummkopf. Der Schlitten ist doch meine Lebensversicherung, wenn ich das andere Ufer jemals erreichen sollte. All die Gegenstände, die ich brauche, um auch nur eine Nacht zu überstehen, befinden sich doch auf dem Schlitten. Dazu Nahrungsmittel für mindestens drei Monate und sogar noch länger, wenn ich ab und zu einen Fuchs oder ein anderes Tier erlege.
Fin neuer Riss im Eis. Alexander redete sich ein, der Riss sei nicht mehr so breit und seit dem vorigen viel Zeit vergangen. Hatte er schon die Flussmitte überschritten?
Alexander machte sich was vor, das seltsame Singen unter seinen Füßen nahm nicht ab, und der Untergrund wurde auch nicht fester. Aber hinter ihm, da tat sich etwas.
Er wagte einen erneuten Blick zurück, ohne das Tempo zu drosseln. Waren das nicht Schreie? Tanzten dahinten nicht plötzlich weniger Taschenlampen?
Jetzt vernahm er die Schreie deutlich. Schreie, wie in Todesangst. Und Alexander horte das Bersten. Nicht nur ein Krachen, sondern unwilliges Bersten, als beschwere sich das Eis über die unangemessene Belastung. Das Bersten nahm zu, kam hinter ihm hergelaufen.
Mit einem Mal verstand Alexander, welche Tragödie sich auf dem Fluss abspielte. Er hatte das Eis zum Reißen gebracht, und seine Verfolger, ohne Ski und vielleicht nicht mit genügend Sicherheitsabstand, waren eingebrochen.
Alexander frohlockte, es waren keine Lichtpunkte mehr zu sehen. Die Schreie wurden auch schwächer. Nicht verwunderlich, bei einer Wassertemperatur um den Gefrierpunkt. Höchstens zehn Minuten lang bestand dann noch eine Überlebenschance, hatte Alexander einmal gelesen. Vielleicht konnten seine Verfolger per Funk den Hubschrauber herbeidirigieren?
Noch war er nicht außer Gefahr. Mit leicht gedrehtem Kopf und einem Ohr lauschend, glitt er weiter. Hoffen und Beten wechselten sich in ihm ab mit allen möglichen Versprechungen.
Zum Schluss wollte er sogar Kerzen in Sagorsk anzünden, falls er mal in der Nähe sein sollte.
Zuerst bekam er es nicht mit. Dann merkte er, wie seine Art, sich fortzubewegen, beschwerlicher wurde, der Untergrund anstieg. Aber Flüsse konnten nicht ansteigen. War das schon das rettende Ufer? Nach wenigen Metern ließ Alexander sich keuchend hinfallen. Es flimmerte ihm vor den Augen, schwer hob und senkte sich die Brust. Er rieb sich Gesicht und Nacken mit Schnee ein, die Kühlung tat gut. Und er stopfte sich Schnee in den Mund.
Anschließend musste er sich zwingen, sich aufzurichten und zum Fluss zu schauen. Lange starrte er in die Dunkelheit. Keine Taschenlampe blitzte auf, kein Geräusch war zu hören - außer seinem Atem und dem Rauschen des Blutes in den Ohren.
Nach einer halben Stunde wusste er, für diese Nacht war er in Sicherheit. Er baute sein Zelt auf, schob den Schlitten hinein, legte sich in die mit Fell ausgeschlagene Wanne, deckte sich zu und war wenig später eingeschlafen.
Schon in der Nacht begann es zu schneien. Am Morgen, es war sieben Uhr, musste sich Alexander aus dem Zelt pellen. Die Wände hingen durch und waren gespannt vom Gewicht der weißen Last.
Draußen herrschte Dunkelheit, die Hand vor den Augen war kaum zu erkennen, so dicht fielen die Flocken. Alexander wagte es, den Brenner anzuzünden und sich einen Tee zu kochen. Dazu aß er getrocknetes Fleisch und ein Stück Brot. Anschließend fühlte er sich wesentlich besser.
Um nicht die Orientierung zu verlieren, hielt er sich immer am Ufer und ging nach Süden. In wenigen Tagen wollte er den Jenissei erneut überqueren, denn die Freiheit, die große Freiheit, falls er sie jemals erlangen sollte, gab es nur im Osten.
Der Jenissei Tag längst
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