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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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Station war deshalb Tschita, wichtiger Umschlagplatz für Felle aller Art, besonders Zobel, Fuchs und Bär. Dieser Hauptknotenpunkt der Transsib nahe der mongolischen Grenze boomte stärker als andere sibirische Städte, die er kannte. Überall wurde gebaut, Kräne ragten in den Himmel, Bagger schabten den Boden auf, man füllte Beton in die Löcher, schon hatte man ein neues Fundament gegossen.
    Fremdartig und wie vom Reißbrett der Wirklichkeit aufgezwungen empfand Alexander die schnurgeraden, breiten, baumbestandenen Alleen der Verwaltungsmetropole, umgeben von mehrgeschossigen, neuerrichteten Wohngebäuden mit roten Ziegel-oder grauen Blechdächern. Er staunte über den enormen Straßenverkehr und die vielen Autos, die sich vor den Ampeln stauten. Am meisten beeindruckte ihn jedoch die Sauberkeit, die man geradezu einzuatmen glaubte. Kein Schmutz war auf den Bürgersteigen zu sehen, keine Papierreste, dafür aber wieselten überall Arbeitskolonnen, die mit Besen und Schaufeln zu Werk gingen. Unterstützt wurden sie von Wasserfahrzeugen, die die Straßen und Bürgersteige absprengten und keine Rücksicht auf Passanten nahmen, als gäbe es eine Verordnung, die Bewohner zwangsweise zu duschen.
    Früh am Morgen bestieg Alexander den Zug und hatte ein Abteil für sich allein. Er saß am Fenster und betrachtete das zerklüftete, wie von einem Riesen zusammengestauchte und gefaltete Jablonowyi-Gebirge, weit und dicht bewaldet im unterschiedlichen Grün der Lärchen, Fichten, Kiefer, Eichen und Buchen, abwechslungsreich und von einer majestätischen Unberührtheit. Manchmal war an den Steilhängen das schroffe, säulenartige Gestein rötlich, um über Braun, Beige und Grau bis in ein im frühen Sonnenlicht glitzerndes Schieferblau zu wechseln. Alexander kam sich im Anblick der dominanten Natur unbedeutend vor, vergänglich und ersetzbar. Auch jetzt gewann er wieder den Eindruck, nur Gast zu sein, mit der Verpflichtung, die Schöpfung zu respektieren und sich ihr unterzuordnen.
    Er verlor das Gefühl für die Zeit. Das monotone Rattern und die kleinen Schläge, wenn der Wagen über die verschraubten Schienenverbindungen rollte, schläferten ihn ein. Draußen vor dem Fenster huschten im Abstand von fünfzig Metern die Pfosten der Strom-und Telefonleitungen mit den durchhängenden Kabeln - sie sahen aus wie zu hoch gespannte Wäscheleinen - vorbei, schienen zu salutieren und verursachten durch den sich ändernden Luftdruck des vorbeibrausenden Zuges ein Geräusch, als pustete jemand eine Kerze aus.
    Irkutsk, Angarsk, Lssolje-Sibirskoje, Ischeremchowo, die Städte interessierten ihn nicht sonderlich. Es war sein Leben, das er an sich vorbeiziehen sah. Schweigsam und in sich gekehrt, machte er eine Bilanz; sie fiel ähnlich niederschmetternd aus wie die seines verstorbenen Mitgefangenen Rassul, der traurig darüber gewesen war, dass er nie hatte heiraten und Vater werden dürfen. Was ist der Sinn meines Lebens, fragte er sich? Immer verstecken, immer auf der Flucht? Oder war es noch derselbe wie vor einigen Jahren, als er den unbändigen, fast zwanghaften Trieb verspürte, gegen den Staat vorzugehen. Wollte er ihn tatsächlich noch mit allen Mitteln bekämpfen?
    Als hätte er sich das Stichwort gegeben: Ja, genau, gegen den unmenschlichen Apparat kämpfen, das ist der eigentliche Sinn meines Lebens. Der Staat hat mir Jahre gestohlen, die für immer verloren sind. Er wird deshalb an mir keine Freude haben. Wie zum Trotz ballte er die Fäuste, aber Alexander wusste, dass er sich belog. Bisher hatte er seinem Land mehr gegeben als genommen. Aufweiche Art und Weise, überlegte er, wäre in Zukunft die Bilanz zu seinen Gunsten und zu seiner Zufriedenheit zu verbessern? Wie müsste er sich verhalten, was hätte er zu tun? Er fand keine Antwort, weil er sich weigerte einzugestehen, er, Alexander Gautulin, könnte womöglich zu bedeutungslos sein.
    Krasnojarsk, Nowosibirsk - Sibirien wurde nach dreitausend Kilometern ruhiger, flacher, endloser. Dörfer konnte Alexander sehen, von Windschutzhecken eingerahmt und gar nicht mal so weit von der Strecke entfernt. Die Häuser, kleine, schmutzige Würfel auf riesigen Schachbrettern, machten einen verlassenen und abgewirtschafteten Eindruck. Auf den Dächern Asphaltflicken, Bretter als Glasersatz vor die Fenster genagelt, ein morscher Zaun, daneben ein abgemagerter, kläffender Hund an einem ausgefransten Strick oder einer rostigen Kette, als hätte man ihn vergessen.
    Je näher er Omsk kam

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