Der König von Sibirien (German Edition)
kleine dazugehörende Balkon, einen Meter im Quadrat, war mit Kisten und Kartons vollgestellt. Vor dem Geländer waren Leinen gespannt, an einer hing ein Beutel. Sibirische Kühlschränke auch in Omsk? Sogar in einer Großstadt, relativ weit im Süden?
Wenn er früher aus der Schule gekommen war, konnte seine Mutter ihn schon von weitem sehen und hören. Laut eilte ihm das Klackern seiner dick eingefetteten, mit Holz und Eisennieten beschlagenen Schnürschuhe, Leder und Gummi war Mangelware, voraus. Jeden Tag winkte er ihr zu, und vor Freude kam er oft ins Stolpern. Manchmal hatte er auch unterwegs auf einer Wiese - inzwischen standen dort ebenfalls Wohnblöcke - Feldblumen und Gräser gepflückt, die er unter dem Hemd versteckte, bis er in der Diele angelangt war.
Alexander schlenderte die Straße auf und ab, wollte nicht auffallen und hatte trotzdem alles im Blick. In einem Fleischerladen um die Ecke wagte er, nach Natascha Gautulin zu fragen. Er beschrieb seine Mutter, aber die beiden Frauen mit den weißen Schiffchen auf dem Kopf und den fleckigen Schürzen konnten sich nicht an sie erinnern. Hier kämen jeden Tag viele Menschen zum Einkaufen, sagten sie. Ihr Geschäft versorge viertausend Einwohner, da könne man sich nicht jeden merken. Immer wieder schauten sie auf seinen Blumenstrauß.
Alexander betrat kurzentschlossen das Gebäude. Die Eingangstür ging schwer und knarrte in den Angeln, der Boden verströmte einen unangenehmen Duft und war mit einem abgetretenen Plastikbelag ausgelegt, durch den sich alle Unebenheiten drückten. Im Treppenhaus roch es außerdem nach Kraut und Kohl. Vorsichtig stieg er die Stufen hinauf, ein Stockwerk weiter, als er eigentlich musste. Unerklärlicherweise überkam ihn das Gefühl, er würde beobachtet. Zu seiner Kinderzeit hatte es in jedem Wohnblock einen Spitzel für Miliz und Behörden gegeben. Das wird sich bis heute nicht geändert haben, sagte er sich, während er auf dem Weg nach unten war. Vor einer Tür in der zweiten Etage, das unterste Brett war ersetzt worden, allerdings fehlte noch der graue Anstrich, verharrte er und lauschte. Einem Impuls folgend, klopfte er an. Schritte, ein Schlüssel ratschte im Schloss, unvermittelt stand er einem jungen Mädchen gegenüber.
»Ich möchte zu Natascha Gautulin.«
»Zu wem?« Das Mädchen legte den Kopf auf die Seite, blinzelte und sah ihn an, als käme er von einem anderen Stern. Aber auch ihm hatten es die Blumen angetan.
»Wohnt hier nicht Natascha Gautulin?« Aus einem der Zimmer meldete sich eine herrische Stimme. »Wer ist denn da?«
Eine Frau quetschte sich an dem Mädchen vorbei und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Was wollen Sie?«
Alexander erkundigte sich freundlich and erfuhr, dass hier bestimmt keine Natascha Gautulin wohne. Schon mindestens vier Jahre nicht mehr, denn seit dieser Zeit seien sie, die Wankows, die rechtmäßigen Mieter. Alles legal, alles mit Bewilligung, und von einer Natascha Gautulin hätten sie noch nie etwas gehört.
Sie wird umgezogen sein, dachte Alexander, bedankte sich und wollte gehen.
»Unten, die Krimerowa, die kann Ihnen helfen. Soll schon seit einer kleinen Ewigkeit hier herumgeistern, die alte Hexe.«
Genau, die Krimerowa. Hatte immer geschimpft, wenn die Kinder zu laut waren oder bei Regenwetter im Treppenhaus spielten. Schon vor zwanzig Jahren war sie alt. Wie alt muss sie dann erst heute sein? Auf Alexanders Klopfen öffnete eine gebeugte Frau die Tür. Misstrauisch sah sie ihn an, er erkannte die Krimerowa wieder und stellte sich als ein früherer Schulkollege vor, der zufällig in der Stadt sei und die Gautulins besuchen wollte
»Gautulin?« krächzte die Krimerowa. Und dann überlegte sie. »Ach ja, zweiter Stock. Nur einen Sohn, so einen wilden Lausebengel.« Aber er habe ihr immer die Milch gekauft und vieles andere. »Nein, die wohnen schon lange nicht mehr hier.«
»Wissen Sie, wo ich die Familie Gautulin finden kann?«
Die Krimerowa traf keine Anstalten, Alexander hereinzubitten, und so musste er im Flur stehend seine Fragen an sie richten. In der zweiten Etage sah er den neugierigen Kopf des Mädchens, es hatte die Arme aufs Geländer gelegt. Ungeniert hörte es zu.
»Der Junge ist unter die Räder gekommen. Ein Spion für die Imperialisten. Hat seine gerechte Strafe verdient. Muss in einem Gefängnis sein.« Die Krimerowa ballte eine Faust. »Die Mutter hat sich sehr für ihren Sohn geschämt und ist weggezogen. Das Ganze hat sie unheimlich
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