Der König von Sibirien (German Edition)
- mittlerweile war Alexander vier Tage und Nächte unterwegs, hatte im Zug gegessen und geschlafen und die unhygienischen, verlotterten Toiletten benutzt -, desto mehr erfasste ihn ein seltsames Kribbeln. Omsk, seine Heimatstadt. Dabei wusste er nichts mit dem Begriff Heimat anzufangen. Hat das was mit Blutsbanden zu tun, fragte er sich. Sind sie normalerweise nicht stärker? Nur ein unscheinbares Kribbeln? Oder bin ich nicht in der Lage, normale Gefühle zu entwickeln?
Genau das war es: In ihm war ein gefühlsmäßiges Nichts, alles schien abgetötet. Und wenn Anna ihn gefragt hatte, ob er sie mochte, dann musste er sich zwingen, ja zu sagen. Zugegeben, Sympathie empfand er für sie, aber zu mehr war er nicht fähig. Tarike, die Ewenkin, bei ihr hätte es anders sein können. Dazu hätte er sich jedoch öffnen und Vertrauen entgegenbringen müssen, und das wollte er zu dem Zeitpunkt noch nicht. Er würde es nun wahrscheinlich nie mehr wollen, nie mehr können.
Natürlich habe ich Gefühle, überlegte Alexander und kühlte seine Stirn an der Fensterscheibe. Deutlich spürte er das Vibrieren des Zuges. Ich hasse. Und wie ich hasse. Und ich verachte. Das sind doch auch Gefühle, wichtige, tiefe und bedeutende, die mich zeitweise ganz vereinnahmen. Vielleicht sind sie sogar beständiger als alle anderen, weil ich mich auf sie verlassen kann und weil sie mir Kraft gegeben haben zum Überleben.
Omsk, der alte Bahnhof, Knotenpunkt für die Strecken aus Swerdlowsk und Tscheljabinsk. Hektisches Treiben im Zentrum, die Anzahl der Autos fiel ihm sofort auf, es waren wesentlich mehr als früher. Unübersehbar die vielen Lkw, die, dunkle Abgaswolken ausstoßend, über die breiten Straßen holperten
Langsam schlenderte er mit seinem Gepäck durch die Stadt. Er setzte sich in ein Teehaus und trank etwas, aß ein weiches Brötchen, ein gekochtes Ei und Zwiebelringe.
Als Kind war er oft mit seinen Eltern auf der Festung rechts des Om gewesen, deren wuchtige Mauern zwischen zwei Wohnblocks zu sehen waren. Dort hatte er auch am Geburtstag seiner Mutter zum ersten Mal ein Eis gegessen. Alexander erinnerte sich, wie erschrocken er zuerst über die Kälte gewesen war, um sie anschließend mit geschlossenen Augen zu genießen
Es war etwas Zögerndes an ihm, als er sich wieder auf den Weg machte, so, als sträubte er sich, mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Angetrieben von einer inneren Unruhe, hatte er es plötzlich eilig. Spontan fuhr er mit einem Linienbus zur alten Festung. Nachdenklich wanderte er auf den Spuren seiner Kindheit, die ihm wie ein Teil aus einem früheren, weit zurückliegenden Leben vorkam. Er entdeckte auch den Tunnel, in dem er sich als Junge versteckt hatte. Lange hatten seine Eltern ihn gesucht.
Am Nachmittag betrat Alexander in einer engen Seitenstraße unweit des Bahnhofs ein unscheinbares Hotel, legte seine Urlaubs- und Arbeitsbewilligung vor, füllte ein Anmeldeformular aus, die Miliz sammelte es jeden Abend ein, und brachte seine Tasche aufs spärlich eingerichtete Zimmer. Er wusch sich auf dem Gang, die Toilette Tag gleich daneben, zog frische Kleidung an und machte sich zu Fuß auf den Weg, um kein Indiz für sein Ziel zu liefern. Unterwegs kaufte er einer ihm freundlich zunickenden Bäuerin, die auf dem Bürgersteig einen kleinen Stand aufgebaut hatte, für zwei Rubel einen Blumenstrauß ab. Ihm war einfach danach.
Außerhalb des Zentrums hatte sich die Stadt sehr verändert. Viele Wohnblöcke wann hochgezogen worden, alle nach dem gleichen Baukastensystem, aber bereits die Fertigteile erweckten den Eindruck, als hätten sie schon Jahre hinter sich. Häuser, bei denen man gerade die ersten drei Stockwerke errichtet hatte, sahen aus wie Altbauten. Die Fassadenfarbe in Hellblau, Hellgrün oder Sandbeige blätterte ab, zwischen den genormten Teilen aus Beton klafften große Risse, die Fugen sprangen auseinander, und viele der Fensterscheiben waren bereits zu Bruch gegangen.
Nach einer halben Stunde gelangte Alexander in den Stadtteil, in dem er groß geworden war. Unvermittelt erblickte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite das gegen Ende der vierziger Jahre errichtete Gebäude im typischen Nachkriegsbaustil mit den seltsamen Betonverzierungen. Obwohl Alexander es sich nicht eingestehen wollte, schlug sein Herz schneller. Weil hier mein Zuhause ist, fragte er sich?
In der zweiten Etage mit Blick zur Straße hatten sie gewohnt, von unten war durch die Fenster nichts zu erkennen. Der
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