Der König von Sibirien (German Edition)
zögerte, aber Leonid klickte bereits die Gurte fest.
»Stell dich nicht so an. Unsere Elektriker machen das jeden Tag, wenn sie eine Leitung zu überprüfen haben«, meinte er salopp. »Du brauchst nur das eine Mal mit dem Ding zu spielen.«
»Schöner Trost.« Alexander schien sich mit seinem ungewöhnlichen Fluchtweg abzufinden, weil er sonst keine andere Möglichkeit sah. Er kletterte den Mast hoch, Leonid folgte ihm mit dem Rucksack. In etwa sechs Meter Höhe wollte Alexander die Rollen in das Tragseil einklinken.
»Bist du auch sicher, dass ich kein Stromkabel erwische?«
»Wirst du gleich merken.«
Alexander befestigte die Gurte an der Rolle und griff nach dem Rucksack. Leonid hielt ihn mit einer Hand fest, denn der Stand auf der schmalen Eisenstrebe war alles andere als sicher.
Alexander schnallte sich den Rucksack um und nahm die Griffe in die Hand.
»Eine Frage noch, Leonid. Wie bist du so schnell an die Ausrüstung gekommen?«
Der Brigadier grinste. »Schon seit mehr als einem Jahre habe ich sie. Man muss für alles gewappnet sein.«
Mit großen Augen starrte Alexander den Dunkelhaarigen an, dessen Schnauzbart wippte. Er lachte.
»Das hier ist also deine Lebensversicherung?«
»Los, mach schon. Gute Reise.«
»Danke, Leonid.« Ernst schaute er den Georgier an. »Ein Freund ist jemand, dem man vertraut, nicht?«
Leonid nickte.
»Dir vertraue ich.«
Der Brigadier gab ihm einen Schubs, und Alexander, der einige Sekunden die Luft anhielt, schwebte über den Abgrund. Er schaute vorsichtig zurück, Leonid winkte hinter ihm her.
Und wieder einmal hatte ihm jemand geholfen. Ist es nicht verwunderlich, fragte sich Alexander, dass ich immer einen guten
Freund habe? Nennt man das Vorsehung? Oder ausgleichende Gerechtigkeit?
Das Tempo nahm zu. Nachdem er den tiefsten Punkt des Tragseils durchlaufen hatte, wurde es langsamer, aber das Seil schwankte wie wild. Alexander hatte Mühe, die Pendelbewegungen auszugleichen und sich einigermaßen ruhig zu halten. Nachdem seine Schwebefahrt ganz zum Stehen gekommen war, hangelte er sich mit den Griffen Hand über Hand weiter. Alexander durfte nicht abrutschen, sonst wäre er bis zur Mitte des Flusses zurückgerollt. Auf dem gegenüberliegenden Ufer angekommen, war er außer Atem und schweißgebadet. Er löste die Gurte, blickte auf die andere Seite und sah Leonid. Noch ein letztes Winken, dann verschwand der Kamerad.
Er muss sich eine gute Ausrede einfallen lassen, wo er so lange gewesen ist, überlegte Alexander, während er den Mast hinunter kletterte.
Nach einigen Monaten spuckte ihn die Taiga an ganz anderer Stelle wieder aus. Mit seinem Rucksack, den kräftigen Lederschuhen und der verwaschenen Arbeitskleidung fiel er nicht auf. Viele zogen durchs Land auf der Suche nach Arbeit, einem Abenteuer oder was auch immer. Bambaika am Witim, vierhundert Kilometer westlich von Tyaada, erreichte er als Beifahrer mit einem Sattelschlepper. Mehr als dreißig Stunden war er auf einer knochenharten, äußerst holprigen Piste parallel der geplanten Baikal-Amur-Magistrale unterwegs, unterbrochen von zwei Pannen und einer längeren Rast in Taximo, weil der Fahrer seinen Rausch ausschlafen musste.
Er orientierte sich nach Süden und überquerte auf abenteuerliche Weise mit Hilfe eines Floßes - das Führungsseil gab seinen Geist auf-den reißenden Fluss Zipa. In Ust-Karenga war er das Ziel von Straßenräubern, die jedoch, als er Pagodins Pistole einsetzte, sehr schnell von ihrem Vorhaben abließen.
War es das Alleinsein und die permanente gedankliche Wanderschaft zwischen Vergangenheit und Gegenwart? Die Beschäftigung mit sich selbst, eine Gratwanderung nahe der Selbstzerfleischung? Das Aufarbeiten seiner Erinnerungen, auch die aus seiner Kindheit, oder etwa die Perspektivlosigkeit, die keinen Raum für die Zukunft ließ? Alexander wusste nicht, was letztlich den Ausschlag gab, aber der Wunsch, seine Mutter zu besuchen, nahm physische Zwänge an. Er würde alle Vorsichtsmaßnahmen beachten und kein unnötiges Risiko eingehen; sie zu sehen, genügte ihm schon. Vielleicht könnte er sogar ein paar Worte mit ihr wechseln? Außerdem war ihm nach einer Reise mit der legendären Transsibirischen Eisenbahn. Nicht aus Nostalgie oder weil er genügend Zeit hatte, sondern um sich zu sammeln und das Land einmal aus dem komfortablen Blickwinkel eines Reisenden zu sehen. Allerdings eines Reisenden auf der Flucht, wie ihm immer wieder bewusst bleiben würde.
Seine nächste
Weitere Kostenlose Bücher