Der König von Sibirien (German Edition)
Strafgefangene in dieser Station war, der eine andere Identität angenommen hatte. Für ihn wie auch für viele seiner Kollegen war es deshalb eine Frage des Überlebens, gut informiert zu sein.
Er drückte dem Neuen die Eisenstange in die Hand und erklärte ihm die Technik des Stocherns. Der trieb das Gerät so tief in den Untergrund, als suche er nach einer Wasserader.
»Ja, gut. Noch etwas kräftiger«, lobte Alexander, der schlagartig die Nervosität registrierte, die sich bei ihm in vielen fahrigen Bewegungen äußerte. Aus dem Augenwinkel beobachtete er den Möbelkran, der ließ sich durch nichts stören. Hau ruck, nichts wie rein mit der Stange.
Mittagspause. Alexander schlang geistesabwesend sein Essen hinunter, Leonid war nicht zu sehen. Wo blieb er denn nur?
Wieder auf der Baustelle. Mit einer Schaufel in der Hand inspizierte er die Trasse, blieb bei einigen Kollegen stehen und sprach zusammenhangloses Zeug. Die Zeit kroch zäh, immer noch kein Hubschrauber am Himmel. Hatte sich Leonid geirrt?
Es ging auf drei Uhr zu. Scheinbar gelangweilt schlenderte Alexander weiter in Richtung des Schwellendepots, bis dorthin waren es knapp fünfhundert Meter. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er, dass der Neue sich auf die Eisenstange stützte und ihm nachschaute.
Alexander blieb stehen und imitierte die Bewegung des Stocherns, der Möbelkran nickte und winkte mit der schweren Stange, als sei sie ein Spazierstock. Auf den letzten Metern musste sich Alexander zusammenreißen, um nicht zu sprinten. Leonid wartete bereits und führte ihn zu einem geländegängigen Kleinlastwagen.
»Los, beeil dich! Deine Leibgarde aus Moskau ist schon da.«
Leonid startete den Wagen, und als Alexander aus dem Fenster schaute, sah er den Quadratschädel gerade aufs Depot zulaufen. Ob er ihn im Auto bemerkt hatte?
Der Transporter schlingerte auf dem aufgeweichten Weg hin und her. Leonid hatte alle Hände voll zu tun, ihn einigermaßen in der Spur zu halten.
»Sie sind in Camp 9 gelandet und mit dem Auto gekommen. Vier Männer. Und sie haben mit dem Leiter der Verwaltung gesprochen.«
»Wo sind meine Sachen?«
Leonid deutete hinter sich. »Papiere, Geld, Pistole.« »Wirklich alles dabei?«
»Ja, sogar einige Kleidungsstücke habe ich in den Sack gestopft. Und deine Arbeitsbewilligung samt Gesundheitstest. Ich wusste gar nicht, dass du eine Pistole hast.«
Alexander schwieg und war irgendwie beruhigt. Mit dem Oberkörper pendelte er Schaukelbewegungen des Autos aus.
»Willst du nicht wissen, was sie gesprochen haben?«
»Hast du es etwa gehört?«
Leonid grinste. »Klar doch.«
»Haben die in deinem Beisein ...«
Leonid schüttelte den Kopf. »Da kommen Experten aus Moskau die weite Strecke bis ins tiefste Sibirien geflogen und verraten sich selbst, weil sie keine Ahnung haben, wie wir die Häuser bauen.«
»Du hast dich unter dem Fußboden zwischen den Pfosten versteckt und gelauscht?«
»Der Dolmetscher ist natürlich ein Spitzel, so wie alle seiner Zunft, die mit westlichen Besuchern zu tun haben. Deine Deutschkenntnisse haben ihn stutzig werden lassen. Den Österreicher hat er einfach als Spion angeschwärzt, weil er mitbekommen haben muss, dass du ihm etwas ausgehändigt hast. Bei der Ausreise in Moskau haben sie ihn gefilzt, alle Filme haben sie an sich genommen und natürlich auch deinen Brief gefunden. Wochen hat es noch gedauert, bis sie genau wussten, welcher
Gautulin gemeint war. Einen ganz besonderen, den sie schon lange in ihren Akten führen und auf den sie so ungemein scharf sind.«
Leonid schaute kurz zu seinem Beifahrer hinüber. »Alexander Gautulin, Devisevergehen, subversive Tätigkeit und Spionage für das imperialistische Ausland. Zehn Jahre Lagerhaft. Und ein mehrfacher Mörder sollst du sein. Der Tod eines Lagerkommandanten geht auch auf dein Konto. Du bist der einzige, den sie damals nach dem Ausbruch nicht geschnappt oder erschossen haben. Tolle Leistung.«
Alexander schwieg.
»Weiter im Norden musst du einige Eskapaden gedreht haben. Fünf Soldaten sind während deiner Verfolgung umgekommen. Im Eis eingebrochen und ertrunken.«
Alexander schaute mit starrer Miene aus dem Fenster. Die Vergangenheit hatte ihn wieder eingeholt. »Was ist mit dem Österreicher?«
»So wie ich die aus Moskau verstanden habe, ist er frei. Nachdem er alles zugegeben hatte, durfte er ausreisen.«
»Werden noch andere festgehalten?«
»Nein, davon war nicht die Rede.«
»Das ist gut.«
Leonid
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