Der König von Sibirien (German Edition)
Gewichtig erhob er sich und verkündete das Urteil: Zehn Jahre Straflager.
Alexander glaubte sich verhört zu haben. Erst als ihn die Wachposten aus dem Raum zerrten, begriff er, was das bedeutete. In seinem Kopf schrillte ein Alarmsignal. Wehr dich, schien es ihm sagen zu wollen, las dir nicht alles gefallen. Er überwand seine geistige und körperliche Trägheit, sein Körper versteifte sich.
»Ich bin unschuldig«, schrie er und wollte sich losreißen. »Ich bin unschuldig.«
Alexander spürte einen Schlag auf dem Hinterkopf, dann wurde es dunkel.
In den nächsten Tagen nahm Alexander überhaupt nichts wahr. Er kam sich wie ein Beobachter seiner selbst vor, spürte keinen Schmerz, hatte kein Empfinden für die Zeit und reagierte nicht, wenn man ihn ansprach. Zehn Jahre in einem Straf-und Arbeitslager, sicherlich auch noch irgendwo weiter im Osten. Lager, von denen er Schreckliches gehört hatte, an etwas anderes konnte er nicht denken. Zehn Jahre, das waren gut vierzig Prozent seines bisherigen Lebens. Er würde dreiunddreißig sein, wenn man ihn wieder frei ließ. Und kaputt und gebrochen, falls er dann überhaupt noch lebte.
Um sich abzulenken und dem Druck der Realität zu entgehen, gab es nur eine Möglichkeit: Er flüchtete in seine eigene kleine Traumwelt und dachte an Hellen. Die wenigen Tage mit ihr waren das einzige Private, das ihm noch verblieben war. Dann die vier Briefe, die sie ihm in den wenigen Wochen ihrer Trennung geschrieben hatte. Wie gerne hätte er sie gelesen. Sich gedanklich mit Hellen verbunden gefühlt. Und genau diese Briefe beseitigten seine letzten Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit, die sich vorher hartnäckig wie ein Virus bei ihm eingenistet hatten.
Überraschend sagte sie ihr Treffen ab und nannte als Grund eine kurzfristig anberaumte Konferenz mit den Russen. Obwohl er sich sträubte, war er fast die ganze Nacht damit beschäftigt, sich unschöne Dinge einzureden, was in Wirklichkeit dahinterstecken könnte. Deshalb kam er auch heute voller Erwartung bereits lange vor der vereinbarten Zeit. Auf ihrem Zimmer war Hellen nicht, auch nicht in der Halle, aber es gab im ersten Stock mehrere Besprechungsräume. Von einem wurde gerade die Tür geöffnet, als er davor stand. Was er sah, genügte ihm. Hellen saß in einem Sessel, ein Mann legte ihr einen Arm auf die Schulter, beugte sich zu ihr und küsste sie.
Fluchtartig stürmte Alexander nach draußen und wollte nur noch weg. Erstaunt registrierte er auf den ersten Metern, dass er eifersüchtig war. Aber dazu habe ich doch keinen Grund, redete er sich ein. Wir kennen uns jetzt vier Tage, hatten unseren Spaß, das ist es auch schon. Warum also sollte ich eifersüchtig sein? Und außerdem:
In einer Woche ist sowieso alles vorbei. Dieses Argument diente ihm nach halbstündiger Überlegung als Rechtfertigung, schließlich doch noch zum vereinbarten Treffen zu gehen.
Hellen wartete bereits auf ihn. Sie schaute ihn an, sah den harten Zug in seinem Gesicht.
»Was ist mit dir, Alex?«
»Nichts. Tut mir leid, bin spät dran.«
»Du hast ...«
»Nein, nein, schon gut.«
Alexander war Fahrig und unkonzentriert, gab einsilbige Antworten, und Hellen merkte, wie er zögerte, als sie ihn küssen wollte. »Alex, mit dir stimmt was nicht.« Er schaute an ihr vorbei. »Hat es etwas mit mir zu tun?« Er presste die Lippen zusammen. »Alex, bitte.«
»Meine Kommilitonen haben recht.«
»Was ... was meinst du?«
»Ihr aus dem Ausland seid alle gleich. Du bist also doch eine liebeshungrige westliche Katharina.«
Mit großen Augen starrte sie ihn an. »Kannst du mir bitte mal erklären, was das soll?«
Mit hastigen, harten Worten redete sich Alexander den Druck von der Seele, ohne allerdings Erleichterung zu verspüren. Zunehmend anklagender wurde er, machte Vorwürfe und Unterstellungen, sie sei nur auf das 'vergnügen aus, was danach geschehe, sei ihr gleichgültig. In seiner aufgebrachten Verfassung merkte er nicht, dass die Angst aus ihm sprach, genauso könnte es sein. Er wollte Widerspruch hören, eine Richtigstellung und den Beweis dafür, dass er grundlos eifersüchtig war.
»Und außerdem küsst du jeden«, schickte er noch hinterher, drehte sich um und eilte davon.
»Alex!«
Er reagierte nicht.
»Alex, bitte warte doch auf mich.«
Ohne noch einmal zurückzuschauen, stürmte er davon. Und mit jedem Schritt wunderte er sich mehr und mehr über sich selbst. Warum muss ich so viel für sie empfinden?
Es begann zu regnen. Nach und
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