Der König von Sibirien (German Edition)
Arme vor der Brust. Es war sehr kalt an diesem 12. November. Irgendwann setzte sich der Zug in Bewegung. Immer noch wusste Alexander nicht, wo die Fahrt hingehen sollte. Die Behörden spielten gern mit der Ungewissheit und konnten sicher sein, mit ihrer Hilfe jeden zu zermürben.
»Wie viel?« fragte der alte Mann neben ihm.
Alexander schaute in ein tiefgefurchtes Gesicht mit Hautknoten und großen Poren, umrahmt von grauem, strähnigen Haar. Die Augen kamen ihm leblos vor wie zwei Murmeln. »Zehn Jahre.«
»Mir haben sie zwanzig gegeben.«
»Weshalb?«
»Weil ich unbelehrbar bin. Habe schon wieder einmal eine Frau vergewaltigt. «
»Ach ja?« Alexander zeigte kein rechtes Interesse für das Schicksal seines Nachbarn. Wie sollte er auch, wo ihm doch sein eigenes schon gleichgültig war.
»Sagt der Richter. Aber ich habe bezahlt, zwanzig Rubel. Sie wollte jedoch nicht, bin ihr vielleicht zu alt gewesen und habe wahrscheinlich gestunken. Kam ja gerade erst aus einem Lager. Acht Jahre keine Frau, und ich habe mich so gefreut, endlich wieder sanfte Haut zu berühren, dazu der Duft von gewaschenem Haar und Parfüm. Sie sträubte sich, aber mein Geld wollte sie. Und da habe ich mich beschwert. Sie hat das Geld jedoch nicht wieder rausgerückt, da schlug ich zu. Ihr Zuhälter war einer von der Miliz, deshalb bekam ich zwanzig Jahre.«
»Aber so alt werden ...«
Alexander, selbst ohne innere Kraft, war dann doch erschüttert über den Fatalismus des Alten, der genau wusste, sein Leben würde in Gefangenschaft enden.
Sein Nachbar erzählte ihm im weiteren Verlauf der Fahrt, dass er bereits annähernd zwanzig Jahre Lager hinter sich habe, in zwei Etappen. Eine einsame Leistung, das überstehe normal keiner.
»Wie alt sind Sie jetzt?«
»Achtundvierzig.«
»Acht ...« Alexander erschrak und drückte sich an die Wand des Waggons.
Der Mann amüsierte sich über seine Reaktion. »Ein Jahr zählt für drei, mein Junge. Warte ab, wie du in einigen Jahren aussehen wirst. Übrigens, ich heißt Mikola. Und du?«
»Alexander.«
Der Zug ratterte monoton, der Wagen wurde durchgeschüttelt, Alexander träumte vor sich hin. Nach zwei Stunden stand er auf und schaute sich um. Das Gleichgewicht haltend, stieg er über Männer, die kreuz und quer auf dem Boden lagen. Einige schliefen oder dösten, andere unterhielten sich, aber die meisten starrten irgendwo ins Leere.
Es war kein geschlossener Wagen, in dem man sie transportierte. Zwischen den einzelnen Bohlen war ein Abstand von annähernd zwei Zentimetern, and den hatten schon andere vor ihnen mit dem stinkenden Stroh abzudichten versucht. Aber der Fahrtwind löste das Material und pfiff ungehindert durch die Ritzen. Da half auch nicht der kleine eiserne Gussofen, der neben dem Eingang an einer Längsseite stand und in dessen Öffnung immer wieder Holzstücke und Strohreste verschwanden. Lediglich einer Gruppe von Männern, sie waren alle wesentlich besser gekleidet als die übrigen, einige sogar mit einer Pelzjacke, spendete er etwas Wärme.
Alexander blickte durch einen Spalt nach draußen. Es hatte zu schneien begonnen, dicke Flocken, dicht wie ein Vorhang. Als er zu seinem Platz zurückging, trat er versehentlich einem der Gutgekleideten auf den Fuß. Obwohl er sich sofort entschuldigte, sprang der Getroffene auf und drückte ihm ein Messer an die Kehle.
»Wenn du das noch einmal wagst, dann brauchst du den Mund nicht mehr aufzumachen, um nach Luft zu schnappen.«
Seine Kameraden lachten, und Alexander war irritiert, weil der Gefangene ein Messer bei sich trug. Ein feststehendes mit einer langen Klinge.
Schnell hockte er sich wieder neben den Alten. »Der eine hat ein Messer.«
Mikola grinste. »Falsch. Die haben alle ein Messer.« Bestürzt betrachtete Alexander seinen Nebenmann. »Wieso? Das dürfen sie doch nicht.«
Der Achtundvierzigjährige lächelte. »Sie dürfen es.«
»Wer sind sie?«
»Blatnoij.«
»Und was ist ein Blatnoij?«
»Dem Wort nach sind das welche, die auf einem Blatt verzeichnet sind, also Verbrecher der übelsten Sorte. Sie gehören einer weit verzweigten Organisation an, die Wachposten haben Angst vor ihnen. Wenn sie einem was tun, fallen die anderen über sie her.«
Immer wieder schielte Alexander zu den Blatnoij, von denen er bisher noch nie etwas gehört hatte. Was berechtigte sie zu dem Sonderstatus?
Alexander wandte sich ab und zog sich in seine Traumwelt, in seine Vergangenheit zurück. Erneut produzierte sein Gehirn schöne
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