Der König von Sibirien (German Edition)
Gedanken, mit deren Hilfe er Problemen ausweichen und die Gegenwart verdrängen konnte. Ein Rezept, das sich für eine gewisse Zeit aufrechterhalten ließ.
Ein Schrei weckte ihn auf. Ein Blatnoij beugte sich über einen Mann, in der Hand ein Messer, die Spitze rot.
»Das nächste Mal schlitze ich dir den Bauch auf, mein Junge. Los, rück das Stroh raus.«
Wimmernd scharrte der Angesprochene mit beiden Händen Stroh zusammen und gab es dem Blatnoij.
»Brav gemacht.«
Während sich der am Boden hockende Mann den Bauch hielt, Alexander sah den karmesinroten Fleck zwischen seinen Fingern wachsen, nahm der Blatnoij das Stroh und stopfte es in den Ofen.
»Alle aufstehen und Stroh zusammenkratzen«, donnerte ein anderer und ging breitbeinig durch den Waggon. »Wir wollen es doch alle etwas warmer haben«, höhnte er. Und als die erwartete Reaktion ausblieb: »Los, habt ihr nicht gehört?«
Die Gefangenen fügten sich und kuschten. Fünf Blatnoij waren in der Lage, annähernd sechzig ausgewachsene Männer, weiß Gott keine Chorknaben, in Schach zu halten, weil sich inzwischen herumgesprochen hatte, wer sie waren.
Neben dem Ofen türmte sich ein Strohberg auf. Einer der Mitgefangenen durfte nach und nach kleine Portionen in die Feueröffnung schieben und musste dann seinen Platz räumen. Da es trotzdem im Waggon immer kälter wurde, sich die Männer aneinanderdrückten, um sich zu wärmen, waren die Plätze gleich neben dem Ofenrohr sehr begehrt. Ab und zu streckte einer seine Hände aus, eingewickelt in eine Jacke oder ein anderes Kleidungsstück, um das heiße Metall zu berühren.
»Reize sie nicht«, warnte Mikola. »Sie sind unberechenbar.«
Wenig später wurde Alexander Zeuge, wie brutal die Blatnoij vorgingen. Einer von ihnen stand auf, blickte sich um. Er kam auf Alexander und Mikola zu, schwenkte dann aber in die andere Ecke.
»Du da, Platz machen!«
Gemeint war ein Junge, höchstens neunzehn Jahre alt. Der verstand nicht sofort, der Blatnoij packte ihn am Kragen und zerrte ihn auf die Seite. Dann ließ er die Hose herunter und verrichtete seine Notdurft. Da es an Papier mangelte, forderte er den Jungen auf, seinen Mantel auszuziehen oder noch besser das Hemd, das sei weicher. Wiehernd lachte der Blatnoij über seinen eigenen Scherz. Doch der Junge sträubte sich. Ein anderer Blatnoij trat naher und schlitzte den Stoff mit seinem Messer auf, damit der erste sich den Hintern abwischen konnte. Als der Junge protestierte, packten ihn die beiden und setzten ihn mitten in die breiige Masse. Wie wild schlug der Junge um sich. Da verlor einer der Blatnoij, ein großer, starker, dunkelhaariger mit dichtem Bart, die Geduld.
»Mund aufmachen«, befahl er. Der Junge wimmerte und weinte.
»Los, mach ihm den Mund auf«, richtete er das Kommando an seinen Kollegen. Der bückte sich, setzte dem Jungen ein Messer an den Hals und sagte ganz sanft: »Ich würde jetzt den Mund aufmachen. Sonst machst du ihn nie mehr auf.«
Der Junge öffnete zaghaft den Mund, der Bärtige nestelte am Hosenlatz und urinierte in die kleine Öffnung, die vergeblich wegzuzucken versuchte. Das Messer ritzte die Haut des Jungen, es gab kein Entweichen.
»Los, schluck es runter«, kommandierte der Bärtige. Der Junge tat, wie ihm befohlen wurde und trank die blassgelbe Flüssigkeit. Er würgte, der Urin spritzte ihm ins Gesicht, in die Augen. Zufrieden verstaute der Bärtige sein Glied wieder in der Hose. »Braves Kerlchen«, lobte er, tätschelte ihm den Kopf und stolzierte davon, als hätte er eine mutige Tat vollbracht.
Der Junge krümmte sich am Boden, übergab sich und weinte. Aber keiner der Anwesenden half ihm, niemand schaute in seine Richtung. Das eigene Leben war wichtiger als Stolz oder was auch immer.
Irgendwann verlangsamte der Zug seine Fahrt, die Tür wurde aufgestoßen, zwei Eimer mit Wasser wurden hineingestellt und einige Brotlaibe hinein geworfen. Zuerst versorgten sich die Blatnoij, einen Eimer und kaum mehr als die Hälfte des Brotes gaben sie an die übrigen Häftlinge weiter.
Viele bekamen überhaupt nichts zu essen. Alexander ergatterte einen Kanten, hart und alt, aber Mikola war leer ausgegangen. Alexander brach ein Stück ab und reichte es weiter. Verwundert starrte ihn der Ältere an.
»Du teilst mit mir?«
Alexander lächelte unbeholfen. Wie sollte er die Frage verstehen? »Ich gebe dir einen Rat, mein junger Freund. Wenn du überleben willst, dann teile nie. Schau immer, dass du genug bekommst. Hör nie auf
Weitere Kostenlose Bücher