Der König von Sibirien (German Edition)
nach mischten sich schwere Schneeflocken darunter. Völlig durchnässt kam Alexander in der Universität an und verkroch sich auf seinem kleinen Zimmer. Er legte sich aufs Bett, sprang nach wenigen Minuten auf, stellte sich ans Fenster und schaute aus dem neunten Stock nach unten auf die schwach beleuchtete Straße und die Baumreihe dahinter.
Weil er sich beschäftigen musste, kochte er sich einen Tee, anschließend duschte er. Einem Mitstudenten, der an die Tür klopfte, gab er zu verstehen, er habe keine Zeit.
»Ich muss hier raus«, schrie er plötzlich, zog eine Jacke an und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten. Schnell durchquerte er die riesige Universitätshalle, umrundete die gewaltigen Säulen, steuerte auf den Ausgang zu und blieb wie erstarrt stehen.
»Alex«, hörte er schwach Hellens Stimme.
Ängstlich und freudig zugleich wandte er sich in ihre Richtung, und da stand sie: schlank, ohne Kopfbedeckung, klitschnass und mit geröteten Augen.
»Alex.«
Mit kraftlosen Beinen, die auch noch unterschiedlich lang zu sein schienen, stolperte er auf sie zu, Hellen kam ihm lachend und weinend entgegen, und dann lagen sie sich in den Armen. Ihre Lippen fanden sich, zwei Sekunden gönnte man ihnen, dann wurden sie mit barschen Worten von der allgegenwärtigen Aufsicht getrennt. Sie entschuldigten sich auf deutsch, deshalb hatte ihr Verhalten auch keine disziplinarischen Konsequenzen.
»Ich bin keine Katharina«, sagte Hellen immer wieder, während sie eng umschlungen durch den Schneeregen spazierten. Sie schaute ihn an, Wasser lief ihr aus dem Haar über das Gesicht und beim Reden in den Mund.
»Jetzt weiß ich es«, entgegnete er und fühlte sich erleichtert, ungemein erleichtert und glücklich und ...
»Du bist den ganzen Weg zu Fuß ...?«
Hellen nickte.
»Und dann hast du auf mich gewartet?«
»Ja, bis zum Morgen, wenn es nötig gewesen wäre.« Sie senkte den Kopf. »Alex, ich ... ich liebe dich.«
Im Hotel legten sie ihre Kleidung zum Trocknen über die Heizung und stiegen dann gemeinsam in die Badewanne. Mehrmals wollte er sich entschuldigen, aber immer wieder unterbrach sie ihn.
»Wir haben heute bei den Verhandlungen mit den Russen einen Durchbruch erzielt. Deshalb hat einer meiner Kollegen mich ...«
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.«
»Ich rechtfertige mich nicht. Aber es ist sehr wichtig für mich, denn du sollst wissen, was der wahre Grund ist. Alex, nie soll es zwischen uns Unklarheiten geben. Verstehst du mich?«
Er bespritzte sie mit Wasser, um davon abzulenken, dass ihm vor Glück die Tränen kamen.
Mitte November, das Wetter war diesig, brachte man ihn gemeinsam mit vier anderen Inhaftierten in einem geschlossenen Wagen zum Kasaner Bahnhof. Auf dem weitläufigen Gelände steuerte der Fahrer ein abgelegenes Gleis an, dort stand bereits ein Zug zur Abfahrt bereit. Etliche Kastenfahrzeuge, olivgrüne Kleinbusse mit vergitterten Scheiben und voll mit Gefangenen, rollten neben die einzelnen Waggons. Als Alexander ausstieg und die übrigen Männer sah, die gezählt, aufgerufen und verladen wurden, spürte er einen Rest von Widerstand in sich. Unwillkürlich spannte er seine Muskulatur, zog den Kopf ein und blickte sich um. Aber seine Bewacher kannten dieses Verhalten, Menschen und Tiere reagieren ähnlich, wenn sie in die Enge getrieben werden und keinen Ausweg mehr sehen, und ein Gewehrkolben pulverisierte Alexanders aufkeimenden Überlebenstrieb. Wie ein dressiertes Stück Vieh schlurfte er, gekrümmt vor Schmerzen, durch ein Spalier von Uniformierten auf einen der Waggons zu, auf denen zu seiner Verwunderung in weißen Buchstaben »Deutsche Reichsbahn« zu lesen war. Als genieße er die letzten Sekunden c er Freiheit, stieg er langsam über eine Rampe in den dunklen Holz kästen und schaute wehmütig über die Schulter zurück.
Alexander war nicht allein. Viele Männer standen und hockten herum, jemand versetzte ihm einen Tritt. Alexander zwängte sich zwischen den schweigsamen, zum Teil zerlumpten Gestalten hindurch und suchte einen freien Platz. Neben einem alten Mann setzte er sich auf den Holzboden, der von einer dünnen Strohschicht bedeckt war. Das Stroh war nicht gelb, sondern braun-schwarz und stank fürchterlich. Außerdem krabbelten kleine, fast durchsichtige Tiere mit vielen dünnen Beinchen und braunen Fühlern in ihm herum.
Alexander knöpfte seinen ausgefransten grünen Militärmantel zu, den man ihm ausgehändigt hatte, zog den Kopf ein und verschränkte die
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