Der König von Sibirien (German Edition)
vorgestellt, wir könnten gemeinsam ...«
Er presste die kippen zusammen. Und nach einigen Sekunden klang es wie ein Versprechen, als er hervorstieß: »Wir werden eine gemeinsame Zukunft haben, Hellen.«
Sie schien von der Art, wie er gesprochen hatte, irritiert zu sein.
»Du wirst doch nichts Unüberlegtes tun?«
»Nein.«
Das beruhigte sie. »Meine Firma wird demnächst hier in Moskau ein Büro eröffnen. Ich könnte etwas für dich arrangieren, Leute wie du sind gesucht.«
Er schaute sie an. »Wieso?«
Hellen stupste ihm mit dem Zeigefinger auf die Nase. »Einmal, weil du perfekt deutsch sprichst und dein Land kennst. Zum anderen, weil es für Bergbauingenieure in unserer Branche immer eine Verwendung gibt.«
»Noch bin ich kein ...«
»Aber in zwei oder drei Jahren.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Vielleicht könnten wir dann beide gemeinsam hier in Moskau arbeiten.«
In dieser Nacht, der ersten im Lager Perm 35, war Alexander in die schöne Welt seiner Vorstellung entrückt, die ihn für die Realität entschädigte. Als öffnete er ein geheimnisvolles Schatzkästlein, empfand er die gleichen Gefühle wie wenige Wochen zuvor und glaubte sogar, Hellens Körper zu riechen. Ihr Haar, die Haut, der Duft unter ihren Achseln, eine Mischung aus Schweiß und Parfüm, der ihn so aufregte, wenn sie miteinander geschlafen hatten. Er sah sie gehen, ihre Hüften schwingen, sah die Wadenmuskeln und die hochhackigen Schuhe, deren Absätze auf dem Steinboden klackerten. Alexander hörte das Schaben der Nylonstrümpfe, wenn sie die Beine übereinander schlug, das Rascheln der Bluse, das Schnippen ihrer Finger im Rhythmus der Musik. Jedes Detail offenbarte sich ihm, weil er es für alle Zeiten in seinem Gedächtnis gespeichert hatte: Die gespitzten Lippen, wenn sie am Strohhalm saugte, ihre typische Handbewegung, falls ihr die langen Haare wieder einmal ins Gesicht gefallen waren, und die Art, wie sie ihre Armbanduhr zurechtrückte. Hellen, das war seine Vision, seine Zuflucht und sein Phantasiegebilde, sein Nachtgebet. Alexander fieberte den ganzen Tag über dem Abend entgegen, wenn er endlich allein und ungestört mit ihr vereint sein konnte.
Seine Zimmerkollegen verstanden nicht, warum er immer so früh zu Bett ging. Falls einer mal nach ihm schaute, die offenen Augen sah und das zufriedene Gesicht, dann verstand er noch weniger.
Allmählich wurde er ihnen suspekt und sie meinten, er sei nicht ganz richtig im Kopf. Und da er auch tagsüber oft abwesend wirkte, verfestigte sich diese Vorstellung. Träumer nannten sie ihn, da er vieles um sich herum nicht mitbekam und sie mehrfach nachfragen mussten, bevor er überhaupt reagierte. Alexander der Träumer spürte oft den Stock des Wachpersonals, weil er sich nicht schnell genug bewegte. Aber was bedeuteten schon körperliche Schmerzen, wenn man geistig gar nicht zugegen war.
Am nächsten dag saß er im Speisesaal einem neuen Gesicht gegenüber. Obwohl Reden verboten war, sprach Alexander den Mann an, der nichts vom Gefangenennachschub mitbekommen hatte.
»Sag mal, wann bist du denn gekommen?«
Der Angesprochene reagierte nicht. Er schien abwesend zu sein.
»Hast du nicht verstanden?«
»Ich bin schon vier Jahre in dem Lager.«
»Ich habe dich aber ...«
»Die letzten sechs Monate war ich im Schizo.«
»Und was ist mit deinen Armgelenken?«
Der Mann blickte auf die dunklen Ringe in verschiedenen Braun-und Violettfärbungen. »Zwei Monate habe ich Handschellen getragen.«
»Den ganzen Tag?«
»Jede Minute.«
Alexander verschluckte sich. Gut, das Lager hatte sich ihm am ersten Tag sehr freundlich dargestellt, kein Wunder nach der Zugfahrt und dem langen Marsch. Aber eine psychiatrische Abteilung und dann nur Handschellen? Skeptisch forschte er im Gesicht des Mannes, ob er ihn auch nicht belog.
»Wie heißt du?«
»Gregori.«
»Alexander. Und warum hat man dich in das Schizo gesteckt?«
»Weil ich die Arbeit verweigert habe.«
»Warum verweigerst du auch die Arbeit? Bist selbst schuld.«
Gregori hob langsam den Kopf und schaute Alexander an. »Weißt du, es ist nicht eine Frage des Verweigerns, sondern eine Frage, wie du dich als Mensch siehst.«
Alexander erinnerte sich an das, was ihm vor einigen Tagen der Mann ohne Zähne über die Würde erzählt hatte. »Du willst dir deine Würde bewahren.«
»Nein. Ich bin Antikommunist, weil das bolschewistische ökonomische und politische System gegen die menschliche Natur verstößt. Und
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