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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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bemerkte Alexander eine Hand, die den Kopf des Jungen streichelte.
    »Der Tote ist auch weg«, rief jemand erstaunt.

    Am Abend, es war schon längst dunkel, stoppte der Zug in einem Bahnhof. Scheinwerfer wurden auf die Waggons gerichtet, die
    Türen geöffnet, eine Kette von Soldaten rückte vor und bezog Position. Während sich alle Häftlinge aufstellen und zum Appell antreten mussten, wurden die aus Alexanders Wagen ausgesondert und in einer Art Scheune gebracht.
    »Weil die Blatnoij geflohen sind«, vermutete Mikola. »Jetzt geht es gleich heiß her.«
    Aber die nächsten Stunden ließ man die Gefangenen in der dunklen Scheune schmoren. Plötzlich flammte Licht auf, etwa zehn Soldaten eskortierten drei Männer, die sich an der Stirnseite aufbauten. Der mittlere der drei, den Rangzeichen nach ein Leutnant, legte gleich im Kasernenhofton los: »Ich will die Wahrheit hören. Und bevor ich sie nicht erfahren habe, werdet ihr diesen Platz nicht verlassen. Solange gibt es auch nichts zu essen und nichts zu trinken. Habt ihr mich verstanden?«
    Gegen Mittag des kommenden Tages - alle Häftlinge waren einzeln verhört worden - erklangen draußen vor der Scheune laute Kommandos. Das Tor wurde aufgestoßen, die Strafgefangenen aufgefordert, hinauszutreten und sich in Zweierreihen aufzustellen. Ein Pkw fuhr vorneweg, ein Lkw mit Soldaten, die alle drei Stunden ihre Kollegen abwechseln sollten, bildete den Schluss.
    In der Nacht hatte es kräftig geschneit. Stapfend setzten sich die Männer in Bewegung. Man trieb sie zur Eile an, um die anderen Häftlinge einzuholen, die sich bereits im Morgengrauen auf den Weg gemacht hatten.
    Zuerst ging es den Schienen entlang, die unvermittelt an einem Prellbock endeten, anschließend über eine Allwetterstraße. Links und rechts hatte man im Abstand von je ungefähr hundert Metern blaugelbe Stäbe m den Boden gerammt. Je länger der Marsch dauerte, erneut setzte Schneefall ein, desto langsamer wurde das Tempo. Der Alte neben Alexander hielt erstaunlich gut mit, dafür aber brach ein anderer zusammen. Mit Gewehrkolbenhieben brachten ihn Vertreter der Begleitmannschaft wieder auf die Beine. Seltsamerweise fanden sich zwei Leidensgenossen, die dem Malträtierten stützend unter die Arme griffen.
    Um Mitternacht erreichten die Erschöpften - sie sehnten sich nach einem warmen Ofen, nach Wodka und frischgebackenem Brot - ausgangs eines Dorfes eine Lagerhalle. Dort schliefen bereits die anderen Häftlinge, die vorher aufgebrochen waren.
    Für die Neuankömmlinge hielt man eine dünne Suppe bereit, sie dampfte zumindest, und ein Stück Weißbrot.
    Alexander setzte sich neben den jungen Anatoli, der schweigend vor sich hin starrte und keinen Appetit zu haben schien.
    »Komm, du musst was essen.«
    Anatoli sah ihn mit stumpfen Augen an.
    »Los, nimm das Brot.«
    Aber Anatoli griff nicht danach.
    »Du schämst dich?«
    Anatoli reagierte nicht.
    »Gegen die Kerle hättest du keine Chance gehabt. Du hast klug gehandelt und dich nicht gewehrt, sonst wärst du jetzt tot.«
    Langsam, als kehrte Anatoli wieder in die Gegenwart zurück, sah er Alexander an. »Hat man dir schon mal in den Mund gepisst?«
    »Nein.«
    »Dann weißt du auch nicht, wie das ist. Lass mich in Frieden.«
    Alexander legte dem Jungen eine Hand auf den Unterarm. Der schüttelte sie mit einer heftigen Bewegung ab.
    »Du wirst es vergessen.«
    »Niemals.«

    Zweitausend Kilometer von Moskau entfernt, erreichten die 253 Männer - inzwischen waren fünf von ihnen an den Strapazen des langen Marsches gestorben - drei Tage später eine kleine Anhöhe. In einer Senke vor ihnen Tag am Ende einer Straße eine Ansiedlung, wie Alexander zuerst glaubte.
    »Perm 35«, flüsterte jemand hinter ihm. Er tat das so ehrfurchtsvoll, als kenne er ein wichtiges Geheimnis.
    Mikola hatte auch schon von der Strafkolonie gehört. »Das sicherste Lager der Welt. Noch keinem ist die Flucht gelungen. Einen großen Friedhof soll es dort auch geben und viele weitere schöne Einrichtungen, die uns den Aufenthalt so richtig angenehm machen werden.«
    Als sie näher kamen, fielen ihnen sofort die Wachtürme auf, wie auf dem Kopf stehende Flaschen. Dazwischen verliefen endlose Reihen und Schleifen von Stacheldraht, der oberste war dicht gerollt wie zu einer Spirale.
    »Hier gibt es auch viele Politische, wie mir einer erzählt hat«, raunte ein Gefangener in der Reihe vor Alexander. »Verurteilt nach Artikel 70 des Strafgesetzbuches. Der Gummiartikel für alle

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