Der König von Sibirien (German Edition)
Krankenhaus seinen Verletzungen. Besonders das kubanische Volk wird nun Grund zum Jubeln haben. Wir schließen uns an.«
Alexander, der die Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten vor zwei Jahren mitbekommen hatte, verstand nicht, warum sich der Radiosender »Stimme des Volkes« so euphorisch über dessen gewaltsamen Tod freute.
»Denk doch an Kuba«, wurde er von Wanja, dem Politischen, belehrt.
»Was ist mit Kuba?«
»Die große Sowjetunion ist mit der Karibikinsel befreundet, die Zuckerrohrfresser sind unser Brudervolk.«
»Ist das alles?«
»Im letzten Jahr gab es wegen Kuba eine Krise, fast wäre es zum Krieg gekommen.«
Alexander, der brav alle Schulungsabende besucht hatte, erinnerte sich. »Die imperialistischen Feinde haben es darauf angelegt, der Sowjetunion und ihren Verbündeten zu schaden.«
Wanja sah Alexander an, als zweifelte er an dessen Verstand. »Du Schwachkopf. Wir waren doch die Aggressoren, weil unser guter Nikita die Insel zu einer waffenstarrenden Bastion ausbauen wollte. Raketen über Raketen, alle bestückt mit Atomsprengköpfen, und das nur wenige hundert Kilometer von den Zentren der USA entfernt. Hättest du dir das gefallen lassen, wenn du amerikanischer Präsident wärst?«
Alexander starrte Wanja nur an, so hatte er den Vorfall noch nicht betrachtet. Und dass die Amerikaner in der Türkei, also direkt vor der russischen Haustür, schon seit langem Mittelstreckenraketen stationiert hatten, die bis weit über Moskau hinaus Ziele treffen konnten, wusste er auch nicht.
»Und dann musste Nikita, unser von militärischen Hohlköpfen umgebener Ministerpräsident, vor der Weltöffentlichkeit den Schwanz einziehen. Wie blamabel. Die Amerikaner blockierten einfach die sowjetischen Schiffe. Wären sie weitergefahren, dann hätte es geknallt.«
Alexander war eher unbedarft und gutgläubig, nicht nur, was die Politik anbelangte. Kritiklos hatte er bisher die staatliche Propaganda geschluckt. Dies konnte man auch ohne Kritik, denn für alle verständlich und in kleinen Portionen wurde sie, gewürzt mit einprägsamen Schlagworten und Floskeln, von oben an den Sowjetbürger herangetragen.
»Aber unsere Aktion diente doch der Sicherung des Weltfriedens und um dem Imperialismus Einhalt zu gebieten.«
Wanja schlug ihm leicht mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Genauso, wie unsere Inhaftierung dem Weltfrieden dient, du Träumer.«
Mit der Zeit lernte Alexander alle Winkel von Perm 35 kennen. Es war in mehrere Segmente unterteilt und jedes für sich mit einem dichten, kreuz und quer gewebten undurchdringlichen Muster aus Stacheldraht umgeben.
Wollte man von einem Feil des Lagers in den anderen wechseln, viele Gittertüren mussten geöffnet und wieder verschlossen werden, dann ging das nur in Begleitung einer Wachperson.
Jenseits des äußersten Zauns befand sich eine Sichtschutzwand aus etwa fünf Meter hohen Palisaden, damit niemand der Insassen mitbekam, was außerhalb ihrer Welt vor sich ging.
Inzwischen brauchte man Alexander nicht mehr davon zu überzeugen, dass dies das sicherste Gefängnis der Welt war. Nicht nur wegen der Hunde, die nachts frei herumliefen und jeden Häftling anfielen, der es wagte, an die frische Luft zu gehen. Nach und nach wurde Alexander auch mit den Gepflogenheiten vertraut. So hatte er mittlerweile selbst am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, zehn Stunden am Tag zu arbeiten, und das sechs Tage in der Woche. Er wurde einem Brigadier unterstellt, der zwar auch Strafgefangener, aber verantwortlich für die Erfüllung des Plansolls war und dessen Anordnungen Alexander zu befolgen hatte.
Mit dem Brigadier war gut auskommen, weil Alexander ihm ab und zu eine Zigarette zusteckte. Wie überall im Lager musste man sich auch bei ihm gewisse Vergünstigungen erkaufen. Weil aber Zigaretten und Wodka die einzig akzeptierten Zahlungsmittel waren, gewöhnte er sich das Rauchen ab, um mehr Spielraum für seinen kleinen privaten Handel zu haben.
Selbstverständlich hatte er dem Gesetz nach ein Anrecht auf den sowjetischen Durchschnittslohn, und der betrug nun mal laut Verordnung, alle Inhaftierten kannten sie, 125 Rubel. Aber das Geld bekam niemand ausgezahlt, mehr als die Hälfte wurde für Unterkunft und Verpflegung einbehalten. »Hotel Sowjetski« nannten die Gefangenen das Prinzip. Urlaub beim Staat.
Was man Alexander aushändigte, vom Rest bekam er nichts zu sehen, war ein monatliches Taschengeld von sieben Rubel, die er im lagereigenen Geschäft
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