Der König von Sibirien (German Edition)
verprassen durfte. Bei den total überhöhten Preisen gab es dafür zwei Päckchen Zigaretten. Falls er mehr Geld haben wollte, musste er mehr arbeiten und sein Soll übererfüllen. War er ein guter Gefangener, wurde das in seiner Akte vermerkt. War er ein sehr guter, konnte sich das positiv auf die Dauer seiner Strafe auswirken.
Alexander machte von dem Recht Gebrauch und schrieb seiner Mutter jeden Monat. Sie antwortete ihm, allerdings fehlten oft einige Seiten, die der Zensur nicht gefallen hatten. Was man ihm aushändigte, waren ihre inständigen Bitten, sich brav und anständig zu verhalten, allen Anordnungen zu folgen und dem Lagerleiter zu vertrauen, dann gehe die Zeit schnell für ihn vorbei. Vielleicht würde man ihn sogar früher entlassen.
Alexander weitete für sich das Recht aus und schrieb an die Deutsche Botschaft in Moskau, einen ehemaligen Kaufmannspalast in der Großen Grusinischen Straße Nummer 17, mit der Bitte, seinen Brief an Hellen Birringer, Düsseldorf, weiterzuleiten.
Antwort erhielt er nicht, aber schon zwei läge später fand er sich in einer der Spezialzellen wieder, die im selben Gebäude untergebracht waren wie der Sanitätsraum. Warum das so war, erfuhr er am eigenen Leib. Man schnallte ihn auf eine Holzpritsche und setzte seinen Körper unier Strom. Immer wieder fragte jemand, den er nicht sehen konnte, warum er an die Deutsche Botschaft geschrieben habe, und immer wieder gab Alexander die gleiche Antwort: damit man den Brief m seine deutsche Freundin weiterleite. Sobald er das gesagt hatte, wurde die Stromstärke erhöht, und zur Abwechslung kippte man ab und zu einen Eimer Wasser über ihn aus. Dann zitierte Alexander wie wild und spürte, wie sein Herz in der Brust hämmerte und raste, als wolle es sich selbständig machen. In seinem Kopf säuselte und quietschte es, das Blut rauschte in den Ohren, die Augen meldeten seltsame Bilder weiter.
So ging das einige läge. Zwischendurch schnallte man Alexander los und verfrachtete ihn in die Zelle, nackt und ohne etwas zum Zudecken. Nach einer Woche setzte die Strombehandlung aus, man gab ihm seine Kleidung wieder und dazu noch eine Decke.
Dafür wachte Alexander immer mitten in der Nacht mit fürchterlichen Kopfschmerzen auf und hatte das Gefühl, als wollte sich sein Gehirn durch die Ohren nach außen drücken. Er presste die Hände gegen den Kopf, aber die Schmerzen ließen nicht nach. Auch dann nicht, wenn er schrie und tobte, aufsprang und hin und her raste. Sie hörten erst dann auf, wenn er mit dem Kopf gegen die Wand lief und ohnmächtig zusammenbrach. Das tat er zweimal. Jedes Mal, wenn er wieder zu sich kam, rann Blut aus seiner Nase, und ihm war, als fehlte in seinem Schädel etwas, als hätte ein Teil des Gehirns seine Tätigkeit eingestellt.
Apathisch auf dem Boden hockend, hörte er, wie eine Klappe in der Tür geöffnet wurde. Deutlich konnte er verstehen, was einer auf dem Gang zu seinem Kollegen sagte. »Wenn wir so weitermachen, dann bringt er siech noch um.«
Von diesem Zeitpunkt an wurde die Lage für Alexander erträglicher. Er war zwar immer noch in der Spezialzelle, aber die Kopfschmerzen ließen nach, allerdings blieb ein seltsam dumpfes Gefühl. Wenn er sich hastig bewegte, wurde ihm schwindelig, ähnlich wie während seiner Gerichtsverhandlung in Moskau. Damals hatte das die Spritze des Arztes bewirkt.
Nach einem halben Leben, so zumindest kam es ihm vor, wurde er wieder in den Schlafsaal gebracht. Als er die Augen aufschlug, standen alle um ihn herum und sahen ihn besorgt an.
»Was haben sie mit dir gemacht?«
Alexander erzählte, auch von den rasenden Schmerzen im Kopf.
»Ultraschall«, ließ sich Wanja vernehmen. »Damit quälen sie dich, ohne dass du weißt, was los ist. Ultraschall, sage ich euch.«
In den kommenden Nächten erlebte Alexander gedanklich die gleiche Prozedur wie in den Nächten zuvor. Die Folge war, dass er sich einfach nicht mehr auf Hellen konzentrieren und sich nicht mehr mit ihr in Verbindung setzen konnte. Andere Dinge drängten sich vor, banale und alltägliche, und so war es ihm unmöglich, ihr Bild abzurufen. Mitten zwischen seinen Hirnwindungen war irgendwo ein weißer, undurchsichtiger Vorhang, der alles verbarg. Krampfhaft versuchte er, sich an Einzelheiten zu erinnern, etwa an die Art, wie sie ihren Körper bewegte, oder ihre Lippen, wenn sie zu ihm sprach. Manchmal glaubte er, den weißen Vorhang zerreißen oder durchdringen zu können, denn die Konturen der
Weitere Kostenlose Bücher