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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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Fälle.«
    »Schnauze«, brüllte ein Aufseher und stieß mit dem Gewehr zu. Ein Aufstöhnen folgte und ein erstickter Fluch, der wie ein Versprechen klang, es dem Peiniger heimzuzahlen.
    Als die Häftlinge durch das Tor ins Lager trotteten, wurden sie von dem in lange olivgrüne Mäntel gehüllten Wachpersonal beobachtet. Einige von ihnen hatten Schäferhunde, die wild an der Leine zerrten und bellten.
    Trotz des Schnees, der alles barmherzig unter einer weißen Decke verbarg, ging etwas Gefährliches von Perm 35 aus. Vielleicht wegen der Ruhe und der Art, wie die Strafkolonie angelegt war: leicht geneigte Satteldächer aus Wellblech und darunter eingeschossige Unterkünfte aus Holz mit weiß gestrichenen Fensterrahmen.
    Als Alexander sich umschaute, bemerkte er außerhalb des Lagers das verputzte zweistöckige Verwaltungsgebäude aus Stein. Es hob sich kaum von der Umgebung ab. Daneben standen die kleinen Wohnhäuser der Wachmannschaft, eine Siedlung für sich in unmittelbarer Nähe des Strafgefangenenlagers. Die Grenzen zwischen Inhaftierten und Bewachern verschwamm, viele Familien waren isoliert vom übrigen Russland und kamen sich gleichfalls eingesperrt vor, nicht durch Stacheldraht, sondern durch die Unendlichkeit des Landes.
    Der Zählappell. Wie schon auf dem langen Marsch, wurden sie auch hier wieder in Gruppen, entsprechend der Belegung der Zugwaggons, aufgeteilt. Zwei Stunden dauerte die Prozedur, einige Gefangene kippten vor Erschöpfung um und wollten nicht mehr aufstehen.
    Später verfrachtete man die Ankömmlinge in unbeheizte Baracken. Einer nach dem anderen wurde aufgerufen, durch den Schnee in ein anderes Gebäude geführt, musste sich auskleiden und zum Desinfizieren unter eine Dusche stellen. Nicht aus Fürsorge den Gefangenen gegenüber, sondern um die Wachmannschaft vor ansteckenden Krankheiten zu schützen.
    Nach dem Duschen erhielten die Strafgefangenen die typische Häftlingskleidung aus grobem Stoff in einem dunklen Marineblau und eine gleichfarbige Mütze. Noch bevor sie sich anziehen durften, wurde eine Nummer auf die Jacke genäht, fortan ihr Name, wurde ihnen der Schädel kahl geschoren, ihr Erkennungszeichen.
    Alexander, inzwischen angekleidet und als Nummer 648 registriert, musste einen Gang mit einem mehrere Meter hohen Metallzaun passieren und durch ein doppelflügeliges Tor zu seiner neuen Unterkunft in einem Seitentrakt des Lagers marschieren. Der Vorraum des eingeschossigen Hauses war erstaunlich geräumig, die Wände hatte man weiß gestrichen, den Sockel von Fußleiste bis Schulterhöhe dagegen hellblau und im gleichen Ton wie das Schwimmbecken des Hallenbades unweit des Moskauer Gorki-Parks, das er als Student einige Male aufgesucht hatte.
    Alexander wurde in einen Schlafsaal geführt, zwei Glühbirnen baumelten von der Decke, der penetrante Geruch von Desinfektionsmitteln reizte die Schleimhäute. Da er der erste war, durfte er sich eines der zwanzig Metallbetten aussuchen. Sie standen mit den Kopfenden an den Wänden, dazwischen war jeweils ein schmaler Durchgang. Er wählte eines am Fenster und stutzte, denn die Betten, neben jedem stand sogar ein kleiner weißer Nachttisch, waren alle sauber bezogen. Unter den Fenstern sah er klobige Heizkörper. Noch nie hatte er sich so über den Anblick der warmen Metallgerippe gefreut.
    Gleich nebenan befand sich hinter einer grünen Holztür ein Waschraum mit zwei Waschbecken. Die Leitungen, auf der Wand verlegt, sahen aus wie dicke Adern. Alexander probierte den Wasserhahn aus, für Millionen Sowjetbürger auf dem Land immer noch das Hauptindiz des Fortschritts. Er funktionierte und tropfte nicht einmal, wenn man ihn zudrehte.
    Alexander wunderte sich noch mehr, als er eine weitere Tür aufstieß und eine kleine Küche entdeckte. Waren alle Geschichten, die er von Strafanstalten gehört hatte, übertrieben, Schreckensbilder der Phantasie? Zumindest Perm 35 machte einen sauberen und humanen Eindruck.

    Am Abend war der Schlafraum mit einer exotischen Mischung von Gefangenen belegt: unter ihnen ein Jude, ein orthodoxer Priester, ein Politischer und der Sohn eines KGB-Offiziers. Nicht zu vergessen Mikola, der jetzt nicht mehr so stank; sein Bett stand zwei Reihen von Alexanders entfernt. Anatoli, den Jungen, hatte man woanders untergebracht.
    Als sie in die Kantine gehen wollten, wurde Alexander erneut mit dem Ritual eines Appells vertraut gemacht. Immer wieder gab es diese Appelle, fünfmal am Tag, sonntags einmal weniger: nach dem

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