Der König von Sibirien (German Edition)
recht.«
»Die haben doch die Macht und die Gewalt. Wir sind keine Menschen, noch nicht einmal Vieh.«
Rassul setzte sich zu dem Fiebernden und deckte ihn wieder zu.
»Macht und Gewalt haben nur wenige. Und sie brauchen beides, um sich vor der Mehrheit zu schützen.«
»Schöne Worte. Wir sind im Lager die Mehrheit, wir, die Plennis, der Abschaum. Aber was haben wir für eine Macht?«
Darauf wusste Rassul nichts zu antworten. Stattdessen kam er auf das Leben zu sprechen. Er schwärmte von der Freiheit und von Dingen, die er schon Jahre nicht mehr gemacht hatte. An einem Fluss sitzen und fischen, stundenlang fischen, auf das sich kräuselnde Wasser schauen, das wäre sein sehnlichster Wunsch.
»Lüg dir doch nichts vor, Rassul. Du wirst all das nie mehr sehen, was du dir wünschst.«
»Aber im Gegensatz zu dir habe ich noch Hoffnung.«
Rassul atmete schnell und spürte wieder diesen Schmerz in seinem Inneren. »Und du bist so jung und hast keine Hoffnung mehr.«
»Die haben mir die vier Bastarde genommen. Wenn ich hier herauskomme, dann probieren sie es erneut.«
»Wehr dich.« Hart stieß Rassul die Worte hervor. »Wehr dich«, wiederholte er. »Sei anders als ich. Jetzt ist es für mich zu spät.«
»Wie denn?« Als koste es ihn viel Kraft, schaute Alexander den alten Mann an.
»Du bist intelligent, hast studiert. Dir wird was einfallen.«
»Hm.«
»Aber mach es so, dass sie dich nicht erwischen.«
Wenige Sekunden später wollte Alexander, der über den harten Klang von Rassuls Stimme und dessen fordernde, aufpeitschende Worte erstaunt war, dann doch wieder sterben, als ihn ein neuer Anfall von Schüttelfrost heimsuchte. Er zitterte am ganzen Körper, seine Zähne schlugen aufeinander, kalter Schweiß brach aus, und seine Stirn glänzte. Unvermittelt wurde ihm warm. Er riss sich die Decke vom Leib und stöhnte: »Ich verbrenne.«
Rassul drückte den sich Aufrichtenden zurück auf das Bett und hüllte ihn wieder ein.
»Lass mich sterben.«
Rassul umfasste Alexanders Schulter. »Was ist dein größter Wunsch?«
»Die Freiheit.«
»Und warum willst du dann sterben?«
»Weil ich nie wieder frei sein werde. Genausowenig wie du.«
»Woher willst du das wissen?«
Alexander mit monotoner Stimme: »Ich will sterben.«
Rassul stand auf und ging in die Ecke der Zelle. Alexander beobachtete ihn. »Was machst du?«
Der Alte kam zurück und öffnete seine Hand. »Siehst du das hier?«
»Eine ... Schabe.«
»Richtig. Sie hat auch ein Leben. Und sie ist auch damit beschenkt worden. Los, zerquetsch sie.«
Rassul packte Alexanders Hand und führte sie zu der seinen. »Los, zerquetsch das Tier.«
»Warum?«
»Du hast die Macht und die Gewalt, es zu tun. Stell dich nicht so an.«
Und als Alexander sich sträubte, wurde Rassuls Griff fester. Als ob die Schabe spürte, um was es ging, versuchte sie, aus der gewölbten Hand des Alten herauszukrabbeln.
»Drück zu, lösch das Leben aus. Es ist nichts wert. Es ist bloß eine Schabe, und davon haben wir Tausende in der Zelle.«
Nur noch wenige Millimeter war Alexanders Daumen von dem Krabbeltier mit dem seltsam braunen Körper, dem unter einer Halskrause verborgenen Kopf und den borstenförmigen Antennen entfernt. Mit einem Schrei riss er seine Hand los.
Vorsichtig ließ Rassul die Schabe wieder frei. Er lächelte.
»Du kannst es nicht. Das ist gut.«
»Was sollte das?« Alexander wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Wenn du nicht in der Lage bist, diese unwichtige Schabe zu töten, um wie viel größer muss deine Verpflichtung sein, dein eigenes Leben zu erhalten.«
»Aber die Schabe ist nicht vergewaltigt worden. Und sie muss nicht zehn Jahre in einem Straflager verbringen.«
Rassul stand auf und legte sich auf sein Bett. Zufrieden sah er aus, als hätte er einen kleinen Sieg davongetragen. Leise murmelte er vor sich hin: »Du wirst leben, mein Junge. Du wirst leben. Und du wirst dich rächen. Schade, dass du es noch nicht weißt, denn das gäbe dir ungeheuer viel Kraft. Und etwas mehr Kraft könntest du im Augenblick sehr gut gebrauchen.«
Alexander war zu schwach, um aufzustehen. Rassul ging zum Zelt und kam mit dem Essen zurück. Anschließend bat er einen Posten, die Krankenstation zu benachrichtigen, Nummer 196 F habe hohes Fieber. Aber der Arzt ließ sich nicht blicken, dafür brachte der Wachmann einen Becher mit Tee, der inzwischen kalt geworden war. Gierig trank Alexander den Tee.
»Warum hast du mich so ausführlich über
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