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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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glaube, es gibt da einen, der mich entlassen will.«

    Der Wärter schloss die Zellentür auf, aber Rassul regte sich nicht. Alexander schlug die Decke zurück und rüttelte den alten Mann. Er Tag halb auf der Seite, die Augen geöffnet und auch den Mund. Und in seinem Mund Hunderte von Schaben, die rein-und rauskrabbelten, das gleiche in Nasenlöchern und Ohren.
    »Nein«, schrie Alexander und wollte die Tiere vertreiben.
    Unvermittelt hielt er jedoch inne und schaute zu Boden, wo eine Schabenkarawane auf dem Weg war zu Rassuls Hand, die aus dem Bett baumelte und den feuchten Untergrund berührte. Über Finger, Arm und Schulter krabbelten die Tierchen hoch, um in Rassul zu verschwinden. »Er hat ihnen einen Weg zu sich gewiesen«, sagte sich Alexander. Ohne seinen Arm hätten sie nicht zu ihm gefunden, denn die Metallbeine des Bettes waren ständig feucht und glitschig.
    Der Wachposten entfernte sich, um Meldung zu machen.
    Alexander setzte sich auf sein Bett und schaute unentwegt den Toten an. Er trauerte, und er weinte. Er war froh um die Tränen, die er vergoss.
    »Mein lieber Rassul, du bist ein liebenswertes Schlitzohr. Erst bringst du mich dazu, wieder leben zu wollen, und dann verabschiedest du dich von mir. Außerdem bist du an Berechnung nicht mehr zu überbieten. Du gibst mir eine Hypothek mit auf den Weg. Dein Tod ist die Hypothek, weiterzuleben. Auch wenn ich sonst nie mehr im Leben ein Versprechen halten sollte, du kannst auf mich zählen. Rassul, wir werden beide leben.«
    Alexander stand auf und schnitt dem Toten ein Büschel Haare ab.

    Das Produkt der Häutung hatte zum ersten Mal Gelegenheit, sich zu beweisen und zu bewähren. Der Natschalnik-Olp verhörte Alexander mit so viel Genus, dass seine Zukunft nur noch eine Frage von Tagen zu sein schien. Er unterstellte ihm unterlassene Hilfeleistung, weil er niemanden benachrichtigt habe. Als Alexander nicht wie erwartet eingeschüchtert reagierte, sprach er von Mord.
    »Gautulin, du hast ihn umgebracht. Der Alte ist dir lästig geworden, jetzt wo du dich wieder besser fühlst. Er hat seine Schuldigkeit getan.«
    Alexander, dessen Emotionen in einem Käfig aus Überlegung und Lebenswillen festgehalten wurden, verneinte. »Genosse Natschalnik-Olp, er hat schon lange über Schmerzen in der Brust geklagt.«
    »Lüge, alles Lüge, 196 F. Der Arzt untersucht ihn gerade. Wir werden es gleich wissen.«
    Alexander dachte, er sei entlassen.
    »Hier, schau dir die schönen Bilder einmal an.«
    Pagodin legte zwei Fotos auf den Tisch. Alexander trat näher und erkannte sich in den Annen von Rassul. Friedlich, wie es schien, schlummerte er an der Brust des alten Mannes.
    »Na, kommen die Gefühle?«
    »Jawohl, Genosse Natschalnik-Olp, ich habe Gefühle. Rassul hat mir sehr, sehr viel bedeutet.«
    Pagodin war verwirrt, Alexander durfte gehen.

    Er war wieder bei den anderen in der Baracke. Um die verletzte Hand trug er nur noch eine dünne Binde, die Entzündung war zurückgegangen, obwohl die Wunde immer noch schmerzte. Zur Arbeit musste er an diesem Tag noch nicht.
    Alexander war allein, Tag auf der Pritsche und starrte mit weit geöffneten Augen zur Decke. Er atmete gleichmäßig, wirkte jedoch abwesend und der Wirklichkeit entrückt. Sein hypnoseähnlicher Zustand wurde lediglich von tiefen Seufzern unterbrochen und von Mundbewegungen, als wiederhole er stumm einen gerade in Gedanken gefassten Vorsatz In diesen Stunden machte er die zweite Häutung durch. Wut überschwappte ihn in einer Dimension, die ihm selbst Angst bereitete, noch wusste er nicht, wie er mit ihr umzugehen hatte. Aber sie kam ihm gelegen wie ein langersehntes Zeichen körperlicher und geistiger Bereitschaft, für einen Kampf gewappnet zu sein, vielleicht nur gegen sich selbst und um der Achtung willen. Auch die Wut konservierte er in seinem Innern, und sie wurde dadurch zu einem Potential, zu einem abrufbereiten Reservoir, auf das er immer wieder zurückgreifen konnte. Warum sollte er nicht diese unbändige Wut nähren, von der keiner etwas wusste? Warum sie nicht als Motivation benutzen? Sie einsperren und zähmen wie ein wildes Tier, tun sie bei Gelegenheit freizulassen? Kontrolliert freizulassen, denn nur er allein war der Dompteur.
    Alexander wurde durch ein fremdes Geräusch gestört. Er stellte sich ans Fenster und sah einen Bulldozer mit breiten Ketten in das Lager herein und am anderen Ende wieder hinausfahren.
    »Was hat das zu bedeuten?« fragte er einen von der Lagerbrigade, der die

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