Der König von Sibirien (German Edition)
bist ein guter Mensch.«
Der Alte fühlte sich bei seinen Gefühlen ertappt und schluckte. Er lehnte sich gegen die Wand, zog Alexander höher, deckte ihn zu und legte einen Arm um ihn, als wollte er ihn wärmen.
Alexander bekam Fieber. Nachts schlug er unwillentlich um sich, lief in der Zelle umher, und Rassul versuchte oft vergeblich, ihn zu beruhigen. An ehesten gelang ihm das noch, wenn er ihn umklammerte und gegen die Pritsche drückte.
Als es einmal ganz schlimm war, ging plötzlich das Licht an und einige Wachmänner standen vor dem Gitter und grinsten.
»Guck mal, er hält ihn im Arm.«
»Ach, wie romantisch.«
»Und wie gern sie sich haben.«
Einer der Grinsenden machte ein Foto.
»Komm, wir lassen die Verliebten allein. Der Natschalnik wird sich freuen, er hat wieder mal Recht behalten.«
Nun wusste Rassul, warum er mit in die Zelle hatte gehen sollen. Fortan misstraute er dem Doktor, denn erst nach dessen letztem Besuch setzte bei Alexander das Fieber ein. Ob es an den Tabletten gelegen hatte?
In dieser Nacht redete Alexander vollkommen wirres Zeug, erwähnte Vorgänge, von denen Rassul keine Ahnung hatte, sprach immer wieder von einem tropfenden Wasserhahn und von amerikanischem Geld. Zwischendurch fiel ein Name, den der Alte zum ersten Mal hörte: Hellen. Nach der Art, wie Alexander ihn aussprach, zärtlich und mit einer seltsamen Betonung, konnte es sich nur um eine Frau handeln. Irgendwann schien Alexander eingeschlafen zu sein. Als Rassul vorsichtig zu seinem Bett gehen wollte, hat der Fiebernde mit unnatürlicher klarer Stimme: »Rassul, erzähl mir von damals, von Workuta und den Blatnoij.«
»Warum soll ich dir von ihnen erzählen?«
»Ich will alles über sie wissen. Es gibt mir das Gefühl, ihnen nicht mehr ausgeliefert zu sein. Wenn du deinen Feind kennst, ist er nur noch halb so gefährlich.«
Am Morgen wurden sie durch den Natschalnik-Olp geweckt. Geschniegelt und gestriegelt, seine Lederstiefel, die ihm bis zum Knie reichten, glänzten wie eine Speckschwarte, stand er vor der Zelle.
Rassul sprang vom Bett auf und nahm Haltung an. Alexander zitterte am ganzen Körper, wollte auch aufstehen, schaffte es aber nicht.
»Häftling 196F. Wir können deine Angelegenheit bereinigen.«
»Jawohl, Genosse Natschalnik-Olp.«
»Dich und Rassul, man hat euch erwischt. Ihr seid schwul.«
»Nein, Natschalnik-Olp.«
»Wenn du unterschreibst, dann ist die Sache vom Tisch.«
Pagodin schob ein Blatt Papier durch die Gitterstäbe. Rassul nahm es und gab es Alexander.
»Ich bin zu schwach, ich kann nicht unterschreiben, Natschalnik-Olp.«
Der grinste anzüglich und wippte auf den Fußspitzen. »Aber wiederum nicht zu schwach, dich an die Brust deines Liebhabers zu werfen, mein Guter.«
Der Geschniegelte drehte sich um und war verschwunden. Rassul las Alexander das Schreiben vor, in dem er zugab, sich mit den Vieren verabredet zu haben, »zwecks Austauschs von Zärtlichkeiten«, wie man es formuliert hatte.
»Warum machen sie das?«
Rassul ließ sich wieder auf sein Bett fallen, er atmete schwer. »Ganz einfach, mein Junge. Jede Verletzung, die nicht durch einen Arbeitsunfall entstanden ist, muss nach oben weitergemeldet werden. Und du bist nun mal nicht durch einen Unfall verletzt worden. An der Hand und ...«
Mit sich überschlagender Stimme fiel ihm Alexander ins Wort: »Sag es schon. Am Arsch. Jawohl, sie haben mir das Arschloch aufgerissen.«
»Bitte, beruhige dich.«
Insgeheim freute sich Rassul über den Gefühlsausbruch. Endlich mal eine andere Reaktion als diese ständige Lethargie.
»Wenn sie dich bewegen können, diesen Wisch zu unterschreiben, dann ist für die Verwaltung der Vorfall aufgeklärt. Als Schwuler bist du selbst schuld, wenn deine Liebhaber zu stürmisch sind.«
In der darauf folgenden Nacht wollte Alexander nur noch sterben. Er wimmerte und schluchzte, krümmte sich zusammen und hatte Schüttelfrost. Rassul deckte ihn mit allem zu, was er hatte. Als letztes zog er sich Jacke und Hose aus.
»Ich will nicht mehr«, jammerte Alexander. Seine Augen glänzten im Fieber.
»Sterben wäre eine Flucht. Jemand hat dir das Leben geschenkt, und du hast die Verpflichtung, dieses Geschenk anzunehmen.«
»Aber die wollen doch alle, dass ich sterbe.«
»Die Verwaltung?« Der Alte lachte hart. »Seit wann tust du denn, was die Verwaltung will?«
Alexanders Zähne schlugen aufeinander. »Die lassen mich krepieren.«
»Erst wenn du dich aufgibst, krepierst du, und zwar zu
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