Der König von Sibirien (German Edition)
die Blatnoij ausgefragt?«
»Weil ich mehr über die Schweine wissen will.«
Rassul atmete tief ein und schwieg.
»Hast du gehört, ich will meine Schinder kennen lernen.«
»Ich habe es gehört. Aber die heutigen Blatnoij sind gefährlicher, brutaler und unberechenbarer.«
»In England lebte vor langer Zeit ein guter Blatnoij. Robin Hood hieß er. Kennst du ihm«
»Nein, Alexander, nie was von ihm gehört. Er war gut, sagst du?«
»Ja. Er bestahl die Reichen und verteilte seine Beute unter den Armen, die ihn sehr verehrten. Für sie war er ein Held.«
»Damals, bis vor ein paar Jahren, waren unsere auch noch gut, einige zumindest. Sie hatten Satzungen, nach denen sie sich verhielten. Wer dagegen verstieß, wurde bestraft. Ihr Prinzip war, nicht zu arbeiten und den Unterhalt durch Raub und Diebstahl zu verdienen. Unerbittlich brachten sie die eigenen Gefolgsleute um, die der Polizei irgendwelche Dienste anboten. Führer der Blatnoij eines Bezirks war immer der Beste und Fähigste. Ihn wählte man zum Ältesten. Und die Sukkis, also die abgefallenen Blatnoij, hatte man verfolgt und liquidiert. Besonders die Tschisjorki, junge Burschen, die Blatnoij werden wollten, taten dies, um sich auszuzeichnen und in den Stand aufgenommen zu werden. Bei jeder Gelegenheit griffen sie zum Messer, um sich zu bewähren. Auch in Workuta. Ein Elefant brauchte nur mit dem kleinen Finger zu schnicken, schon war ein Tschekist für alle Zeiten stumm. War dein Robin ... wie hast du ihn genannt?«
»Robin Hood.«
»War er tatsächlich ein Blatnoij?«
»Nicht so, wie du meinst. Er setzte sich wirklich für die Armen ein.«
Nach einigen Sekunden fragte der Alte, um das Thema zu wechseln: »Wer ist Hellen?«
Alexander drehte den Kopf zur Seite und schwieg.
»Willst du nicht darüber sprechen?«
Obwohl sich Alexander müde und schlapp fühlte, sprudelte es plötzlich nur so aus ihm heraus.
»Du liebst sie immer noch?«
»Ja.«
Alexander merkte, dass Rassul etwas bedrückte. Als er nachfragte, sagte dieser: »Bist du auch Realist?«
»Du meinst, es hat keinen Sinn, an Hellen zu denken?«
»Genau.«
»Und warum, he?« Plötzlich war da ein Glühen in Alexanders Augen, das so gar nicht zu seiner Verfassung passte.
»Zehn Jahre sind eine Ewigkeit. Du kannst von keiner Frau verlangen, dass sie auf dich wartet.«
»Aber sie liebt mich auch.«
»Und wird schon längst enttäuscht sein, weil du nicht an die Deutsche Botschaft geschrieben hast.«
»Verdammt, ich konnte doch nicht ...«
»Woher soll sie das denn wissen, mein Junge?«
Zuerst dachte der Alte, Alexander sei betroffen von seinen Worten. Dann aber bemerkte er verwundert, wie er sich straffte und aufrichtete und mit erstaunlich fester Stimme entgegnete: »Das interessiert mich nicht. Hellen ist hier drin.« Er klopfte gegen die Brust. »Und da wird sie immer bleiben. Egal, was du sagst.«
Rassul war beruhigt, Alexander zeigte wieder Lebenswillen.
In dieser Nacht vollzog sich die Häutung.
Das Fieber hatte etwas nachgelassen, Alexander Tag wach. Vieles ging durch seinen Kopf. Zum ersten Mal fühlte er keine Scham aufsteigen, als er an die vier Bastarde dachte. Im Gegenteil, klammheimliche Freude glaubte er zu empfinden, Vorfreude auf das, was er tun wollte, wenn er körperlich wieder ganz hergestellt war. Er ballte seine gesunde Faust, fest, noch fester, die Fingernägel drückten sich in den Handballen. Als müsse er sich von seiner neu gewonnenen Kraft überzeugen, tastete die verwundete Hand nach der Faust und überprüfte sie. Kantig die Knöchel, wie eine Klammer der Daumen, hart die Muskelstränge am Unterarm. Die Faust kam unter der Decke hervor. Alexander besah sie sich im Gegenlicht des Zellenfensters um konnte nur die Konturen ausmachen. Das genügte ihm, und er nickte, als sei er mit dem Gesehenen zufrieden. Während er sich auf die Seite drehte, rammte er seine Faust in die harte Matratze. Und noch mal, und immer wieder. Er war wirklich mit sich zufrieden.
Alexander merkte, wie in ihm eine Kraft wuchs, die sich von Sekunde zu Sekunde ausbreitete. Diese Kraft hieß Leben, und eine innere Stimme schrie immer wieder: Ich will leben!
Zuerst hörte er noch auf eine zweite Stimme, die, wie so oft in den vergangenen Wochen, zu bedenken gab: Was erwartest du denn überhaupt vom Leben? Bist du nicht lebendig begraben, ohne es zu wissen, ohne den Zustand zu akzeptieren? Bist du nicht deinen Peinigern ausgeliefert, dem Staat und seinem Willen ausgeliefert und
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