Der König von Sibirien (German Edition)
ein, während sie ihn wieder zu Bett brachte.
Noch schlimmer war der Morgen für Alexander, als er auf der Toilette saß. Er schrie und stöhnte, und Trinen traten ihm in die Augen. Sein Stuhl war rot.
In den folgenden Nächten fand ihn die Krankenschwester wiederholt im Waschraum. Blut war auch auf dem Handtuch, mit dem er sich gereinigt hatte.
Alexander verlor jedes Zeitgefühl. Irgendwann besuchten ihn der Natschalnik und der Natschalnik-Olp, der Leiter des Lagerbezirks, in dem man ihn untergebracht hatte. Weil die Schwester dabei war, bemühten sich die beiden Männer um einen freundlichen Ton. Aber Pagodin, der Natschalnik-Olp, ließ ihn seinen Widerwillen und seine Geringschätzung spüren. Er übernahm es auch, die Fragen an Alexander zu richten.
»Haben Sie gesehen, wer er gewesen ist?« fragte er lauernd.
Alexander, er hatte genügend Zeit zum Überlegen und um die Konsequenzen zu bedenken, hielt sich an Rassuls Warnung. »Nein, ich konnte niemanden erkennen.«
Täuschte sich Alexander oder atmete der Natschalnik-Olp wirklich erleichtert auf? »Wie viele waren es?«
»Vier. Drei weitere hielten draußen Wache.«
»Was hatten Sie in der Baracke zu suchen?« Alexander wunderte sich, warum Pagodin ihn so freundlich ansprach. Nicht mit Nummer 196 F, unter der er registriert war. »Ich wollte auf die Toilette.«
»Selbstverständlich. Haben Sie sonst jemanden gesehen?«
»Der Platz davor war leer.«
Da Alexander in der Krankenstation Tag und sich erbärmlich fühlte, ließ er das »Jawohl« und den »Genossen« weg. Außerdem weitete er die Warnung von Rassul auch auf Semja aus, der ihn aus der Baracke in den Waschraum gelockt hatte. Aber zu gegebener Zeit würde er ihm einige Fragen stellen. Die Antworten ahnte er schon jetzt: Sie haben mich dazu gezwungen.
»Leer? Der Platz war leer?« Der Vertreter schaute zu seinem Vorgesetzten. »Aber es war doch so schönes Wetter.«
Und dann druckste der Natschalnik-Olp herum. Vorsichtig wählte er seine Worte, wegen der Zeugin. »Gautulin, ich habe in Ihrer Akte aus Perm nachgesehen. Da ist ein seltsamer Vorfall erwähnt. Man hat Sie schon mal in einer Sache vernommen, in deren Verlauf homosexuelle Praktiken eine Rolle gespielt haben.«
Alexander sah Anatoli vor sich. Der durfte wenigstens sterben.
»Ja, das stimmt.«
»Was ... was mir zu denken gibt, ist die Duplizität.«
»Ich verstehe nicht, Genosse Natschalnik-Olp.«
»Dort die Vergewaltigung und hier die scheinbare Vergewaltigung.«
Alexander zuckte bei der plumpen Unterstellung zusammen. »Scheinbare Vergewaltigung?«
»Also Vergewaltigung. Ich verstehe das nicht.«
Alexander sah Pagodin nur an.
Nach einer Kunstpause sprach der weher: »Verzeihen Sie die Frage, aber sind Sie homosexuell?«
»Nein.«
»Ist ja nichts Schlimmes.«
So verständnisvoll, wie der Natschalnik-Olp das sagte, hoffte er auf ein Eingeständnis. Genau das würde den Vorfall blitzschnell vom Tisch fegen.
»Ich bin nicht homosexuell.«
»Also gut. Könnte es sein, dass Sie den Kerlen Andeutungen gemacht haben? Versprechungen?«
»Nein.«
Pagodin massierte sein Kinn und erweckte dabei den Eindruck, über das Gesagte nachzudenken. »Oder besteht die Möglichkeit, dass die vier etwas falsch ausgelegt haben?«
»Ich kam in die Toilette, und da warteten sie bereits.«
Alexander merkte, er hatte sich verplappert. Er erwartete, dass der Natschalnik-Olp nachfragen würde, warum sie schon auf ihn gewartet hätten. Aber nichts dergleichen geschah.
»Sehr mysteriös, die ganze Angelegenheit. Wirklich sehr mysteriös. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann lassen Sie es uns wissen.«
Aber ein Blick in die Gesichter der Lagerleiter, der Natschalnik hatte kein Wort gesagt und alles seinem Vertreter überlassen, zeigte Alexander, er möge sich gefälligst hüten, noch ein neues Detail nachzuliefern. Er möge sich überhaupt hüten. Deutlicher konnte für Alexander kein Beweis ausfallen, dass Lagerleitung und Blatnoij zusammenarbeiteten.
Eine Woche durfte Alexander in der Krankenstation verbringen. Seine Hand heile gut. sagte ihm der Arzt, den er auch einmal zu Gesicht bekam. Vielleicht dürfe er schon früher wieder arbeiten. Alexander wisse ja, dass jeder Mann gebraucht werde, um das Plansoll zu erfüllen.
Und dann Tag Alexander wieder auf seiner stinkenden, dreckigen und von Ungeziefer wimmelnden Pritsche mit der Zeltplane und dem Häckselsack voller vermodertem Gras. Stumpfsinnig starrte er gegen das Dach und reagierte
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