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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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ohne Aussicht, je etwas daran ändern zu können?
    Noch vor zwei Tagen hätte dies genügt, in Gleichgültigkeit zu verfallen und zu resignieren. Noch vor zwei Tagen wäre all sein Lebenswille, zu der Zeit nur ein bescheidenes Relikt aus längst vergangener Zeit, zusammengeschrumpft und bedeutungslos geworden. Nicht aber in dieser Nacht. Er drängte die zweite Stimme einfach zur Seite, ohne sie weiter zu beachten und setzte sich über sie hinweg, als leite ihn die Erkenntnis, die Wirklichkeit sei anders, sei gut.
    »Ich will leben, für Hellen, für ... mich, für meine Zukunft. Und ich überlebe auch dieses Straflager. Ich werde nicht zerbrechen oder eingehen, ich ordne mich den Blatnoij nicht unter.«
    Tief in sich hineinhorchend, registrierte er die Warnung, sich nicht zu überschätzen, seine Position zu überdenken, die Umstände zu beachten. Sei wie eine Weide im Wind! Bieg dich, aber zerbrich nicht! Und wenn der Wind nachlässt, richte dich auf! So, wie der Wind nachlässt, wird die Kraft deiner Feinde nachlassen.

    Am nächsten Morgen stand Pagodin wieder vor dem Gitter, korrekt gekleidet und mit glänzenden Stiefeln.
    »Na, 196 F, wie ist es. Unterschreibst du?«
    »Jawohl, Genosse Natschalnik-Olp.«
    Der stutzte über Alexanders Sinneswandel, aber noch mehr wunderte sich Rassul. Als der Alte jedoch in Alexanders Gesicht schaute, die Veränderung bemerkte, den Glanz in den Augen und die neue Körperspannung, da lächelte er heimlich.
    »Gut, dass du zur Einsicht kommst. Unterschreib jetzt gleich.«
    Alexander stand auf, viel langsamer, als er dazu in der Lage war. Er schwankte, griff sich an den Kopf und stützte sich mit der unverletzten Hand an der Wand ab.
    »Entschuldigung, Genosse Natschalnik-Olp, aber ich fühle mich ...«
    »Schon gut. Hier unten, dort, wo das Kreuz ist.«
    Alexander nahm das Blatt Papier und den Stift, überflog den Text und setzte seinen Namen darunter. Ohne ein weiteres Wort entfernte sich Pagodin.
    »Hast du dir das auch genau überlegt?«
    Alexander sah Rassul nur an.
    »Und über die Konsequenzen bist du dir im klaren?«
    »Pagodin wird im Lager verbreiten lassen, dass ich schwul bin und du auch. Damit kann ich leben.«
    »Aber es wird ihm keiner glauben.«
    »Darum geht es ihm nicht. Er kann den Vorfall abschließen und den Blatnoij Entwarnung geben. Außerdem hat er nun ein wichtiges Dokument in den Händen, falls der Arzt es anders sehen sollte.«
    »Und du bist jetzt wieder Freiwild für die Blatnoij.«
    Alexander setzte sich auf das Bett. »Zumindest werden sie mir noch eine Schonfrist einräumen. Und das genügt mir.«
    »Wozu?«
    Alexander antwortete nicht.
    An diesem Morgen ging er das Essen holen, Rassul fühlte sich nicht wohl.
    »Wieder die stechenden Schmerzen?«
    Rassul nickte und kaute das Brot noch bedächtiger als sonst.
    »Und dein Herz?«
    »Ich habe mich schon daran gewöhnt.«
    »Warum gehst du nicht auf die Krankenstation?«
    Rassul trank die lauwarme Wasserbrühe, in der zwei Möhren-
    stückchen schwammen. »Ich kann denen leider keine Verletzung zeigen oder sonst etwas. Für die bin ich ein Simulant. Und was mit Simulanten geschieht, weißt du.«
    Alexander nickte. Man erhöhte einfach ihr Plansoll, und schon regelte sich die Lage von selbst. So lautete die Einschätzung der Lagerverwaltung, und die kannte jeder Plenni. Deshalb versuchte es erst gar keiner, die Krankenstation mit so was Alltäglichem wie einer Lungenentzündung aufzusuchen. Oder Magenschmerzen oder Herzrasen.
    Wenig später spazierten die beiden in der warmen Frühlingssonne.
    Alexander musste Rassul stützen. »Ich möchte mich bei dir bedanken, Alexander.«
    »Ist es nicht umgekehrt? Hast du mir nicht das Leben gerettet? Es mir wieder eingeredet?«
    Rassul lächelte. »Nein, ich möchte mich bedanken.«
    »Wofür?«
    Der Alte blieb stehen, atmete stoßweise und massierte sich die Brust. »Weil du mich beachtest und ernst nimmst. Weil du normal mit mir sprichst und mich nicht beschimpfst, »aus dem Weg, spur dich, los, arbeite schneller«. Du hast mir das Gefühl gegeben, ein Mensch zu sein. Seit vielen Jahren habe ich dieses Gefühl vermisst. Aber die wichtigste Erkenntnis war, dass du mich gebraucht hast. Für jemanden da zu sein bedeutet, anerkannt zu werden, eine Aufgabe zu haben. Dafür danke ich dir.«
    Alexander war betroffen. Um seine Regung zu überspielen, meinte er scherzhaft: »Das ist ja so, als wolltest du dich von mir verabschieden. Will man dich entlassen?«
    »Ja, ich

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