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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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wie ein Körper durch die Luft gewirbelt wurde. Zwei Sekunden tat sich nichts, dann rannten die Häftlinge los, als hätte jemand ein Kommando gegeben. Kein schöner Anblick bot sich ihnen. Tief hatte sich der Stacheldraht in die Haut des Mannes gedrückt, in Augen, Mund und Zunge, die seitlich heraushing und an die Wange geheftet worden war. Eng um den Hals zog sich der Draht, wo sich noch schwach der Pulsschlag regte, als kämpfe er gegen die Zacken an. Ein zuckender Mensch, eingeschnürt und von einem todbringenden Geflecht aus hellem Draht stranguliert, die Arme eng an den Körper gepresst wie eine Raupe, die sich verpuppt.
    Sosehr sich die Anwesenden auch mühten, den Eingewickelten zu befreien, er starb qualvoll vor ihren Augen.
    »Schweinerei«, schimpfte einer, der wieder Unheil auf die Brigade zukommen sah. In letzter Zeit nahmen sie es bei Arbeitsunfällen ganz genau.
    »Los, ruf den Natschalnik-Olp«, kommandierte Wolkow. »Und ihr da«, er meinte zwei Herumstehende, »überprüft alle anderen Drähte. Nicht, dass mir eine solche Sauerei noch mal passiert.«
    Zwei Minuten später kam Pagodin. »Wie konnte das geschehen?«
    »Die oberste Reihe war festzuzurren, und da hat sich der Draht gelöst«, antwortete Wolkow, der Brigadier.
    »Und wieso ist der Gefangene auf diese seltsame Weise eingewickelt?«
    Auch darauf hatte Wolkow eine Antwort. »Der Stacheldraht wird uns auf Rollen geliefert.« Er deutete auf eine. »Durch das Aufrollen im Werk im warmen Zustand hat er nach dem Erkalten eine Eigenspannung und ist bestrebt, sich wieder zusammenzurollen, wenn man ihn loslässt. Genau das ist in diesem Fall geschehen.«
    Pagodin schaute zu den übrigen Rollen and prüfte den Sitz des Drahtes an einem Pfosten. »Wo hat der Mann gearbeitet?«
    »Am vierten Pfosten von hier aus gesehen.«
    Alexander, der etwas abseits stand, wunderte sich, wieso der Brigadier nicht in der vorgeschriebenen Form »Genosse Natschalnik-Olp« antwortete und warum sich Pagodin nicht daran störte. Der Natschalnik-Olp machte einen Schritt auf den Toten zu und verzog bei dessen Anblick das Gesicht. »Wie kommt er hier an diesen Platz?«
    »Der Draht hat ihn mitgerissen. Wie gesagt, die Spannung.«
    Das leuchtete Pagodin ein. »Aber aus welchem Grund konnte sich der Draht überhaupt lösen?«
    Wolkow zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht, ist bisher auch noch nie passiert. Der Draht wird an einem Pfosten angeheftet und anschließend gespannt.«
    »Wo war er angeheftet?«
    »Am Ende, ganz da hinten.«
    »Das heißt also«, überlegte Pagodin laut, »der Draht hat durch die fünfzig Meter oder wie viel es immer ist, so viel Wucht bekommen, dass er einen ausgewachsenen Mann mitreißen konnte.«
    Der Unfall sprach sich schnell im Lager herum, und bei der Essensausgabe sah Wolkow, der Schlächter, Alexander wieder seltsam an. Der raunte ihm so leise zu, dass kein anderer es verstehen konnte: »Leider fehlt jetzt einer bei der nächsten Verabredung im Waschraum. Aber zu dritt macht es auch Spaß, oder?«
    Selbstverständlich war es auch den übrigen Barackeninsassen nicht verborgen geblieben, dass einer von Alexanders Peinigern, jeder kannte ihn, obwohl sein Name nie offiziell genannt worden war, sein Leben hatte lassen müssen. Alle rekonstruierten, wo wohl Alexander zum Zeitpunkt des Unfalls gewesen war. Einhellig kamen sie zu dem Ergebnis, ihn treffe keine Schuld, das müsse wirklich ein Zufall gewesen sein.
    Alexander jedoch, der an diesem Abend lange wach Tag und in sich hineinforschte, sah Rassul auf sich zukommen und lächeln. Der Alte kam näher und näher und wirkte sehr zufrieden. Als er dicht vor ihm stand, zwinkerte er mit einem Auge.

    Längst war der Bereich eingezäunt, kein weiterer Vorfall hatte sich ereignet. Inzwischen war der Bulldozer damit beschäftigt, Gräben für die Fundamente auszuheben, die man anschließend mit Beton füllen wollte. Dazu zog das schwere Gerät eine Art Pflug hinter sich her, der sich tief in den Boden grub, denn auf diesen Fundamenten sollte später eine Halle aus Stein errichtet werden.
    Bergseitig standen jedoch noch einige Bäume im Weg. Da es an Sägen und anderem Werkzeug mangelte, kam Wolkow die arbeitssparende Idee, die Bäume einfach mit einem Drahtseil, welches man an das stark motorisierte Kettenfahrzeug befestigte, aus dem Boden zu reißen. Und das klappte auch hervorragend.
    Das klappte bis zu dem Zeitpunkt hervorragend, als ein markerschütterndes Brüllen den Hang herunterhallte,

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