Der König von Sibirien (German Edition)
unser großer Stalin auch in der Verbannung war?«
»Nein.«
»Fünfmal soll er geflohen sein. Fünfmal.« Und dann mit verträumtem Unterton: »Alexander, was ginge es uns gut, wenn wir nur in der Verbannung wären. Wir könnten in einem Haus leben, hätten ein Frauchen und Kinder, würden denen abends Geschichten erzählen und sie zu Bett bringen.«
Alexander, der sich von seinem Beinbruch einigermaßen erholt hatte, stürmte in Pagodins Büro. Als ein Wachposten drohend näher rückte, schickte ihn der Natschalnik hinaus.
»Wenn du den Krieg willst, dann kannst du ihn haben«, polterte Alexander los. »Und er wird viele Opfer kosten.«
»Wovon sprichst du?«
»Die Abdichtung bleibt.«
»Ich lasse sie entfernen.«
»Sie bleibt.«
Angriffslustig sahen sich die beiden Männer an. Jeder war bestrebt, sein Terrain zu verteidigen.
»Denk nur nicht, weil du mich umgerissen und vor dem Mast bewahrt hast, dass du jetzt Sonderrechte genießt.« Pagodin unterstützte seine Worte mit der Faust, die krachend auf dem Tisch landete.
Alexander machte eine wischende Handbewegung, als gelte es, eine Mücke zu verscheuchen. »Vergiss es. Aber übertreib nicht den Kadavergehorsam gegenüber Moskau.«
»Wie wagst du, mit mir zu sprechen?« Pagodin sprang auf.
In Alexanders Gesicht stand ein geringschätziges Lächeln. »Sag mal, stellst du dich so dumm, oder bist du es wirklich?«
Da es Pagodin vor Verwunderung die Sprache verschlug: »Du scheinst dir noch immer nicht im klaren zu sein, dass du deinen Dienst hier auf einem Abschiebeposten versiehst, du selbst ein Gefangener des Systems bist.«
»Wieso?«
»Sobald das Rote Kreuz kommt und seinen Bericht abgedreht hat, werde ich an die Wand gestellt, und du gehst in Lagerhaft. Nein, man wird dich nicht degradieren, das wäre zu billig. Du wirst zu einem von uns. Zehn Jahre, mindestens. Und dann musst du ungemein aufpassen, sag' ich dir. Die Schatten deiner Vergangenheit werden vielleicht sehr schnell lebendig.«
Pagodin wurde bleich und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
»Du und deine Leute, ihr seid auch Gefangene, wir alle sind Gefangene. Du hältst dich an die Vorschriften, so, wie du es gewohnt bist, aber kein Schwein in Moskau kümmert sich darum.«
»Wie kannst ...«
Alexander unterbrach Pagodin einfach. »Es gibt nur eine Möglichkeit, heil aus der Sache herauszukommen: Das Rote Kreuz darf nicht erscheinen. Und wenn doch, dann werde ich in einem Interview, Bericht oder was immer die Sowjetführung loben, und dich loben, und den Sozialismus loben und all die liberalen Bestrebungen im Land. O nein, es fällt mir nicht schwer zu lügen, denn es geht ganz allein um meinen Arsch. Und ein bisschen auch um deinen.«
Pagodin merkte nicht, wie er automatisch einen Stift ergriff und unsinniges Zeug auf ein Blatt Papier kritzelte. Aber Alexanders Worte drangen allmählich tiefer und wirkten in ihm nach.
»Eventuell hilft es uns«, sprach Alexander weiten um sofort zweifelnd anzumerken: »Das allein wird jedoch nicht genügen.« Und nach wenigen Sekunden, als sei ihm etwas eingefallen: »Möglicherweise ist in Moskau durch den Machtwechsel auch sonst einiges anders geworden. Man betrachtet den damaligen Vorfall nicht mehr als so schwerwiegend. Darauf dürfen war uns aber nicht verlassen, Erfolgsmeldungen müssen her. In vier Wochen verziehen sich die Ingenieure, dann sind wir auf uns gestellt und du musst gute Nachrichten nach Moskau liefern. Die sollen staunen, was der Pagodin alles erreichen kann. Aber dazu brauchst du uns.«
Pagodin reagierte nicht.
»He, hörst du mir eigentlich zu?«
Langsam drehte Pagodin den Kopf und starrte Alexander an. »Was meinst du, mit guten Nachrichten?«
»Ganz einfach: Unser Plansoll übererfüllen.«
»Und wie schaffen wir das?«
»Indem die Männer motiviert werden, ich meine die Strafgefangenen, und mindestens fünfzig deiner Wachposten bei der .Arbeit mit anpacken. Die übrigen reichen immer noch, uns in Schach zu halten.«
Pagodin schüttelte den Kopf. »Die werden nicht mitmachen.«
»Das ist deine Angelegenheit.«
»Und die Strafgefangenen auch nicht.«
»Das wiederum ist meine Angelegenheit.«
Die beiden Kontrahenten sahen sich an. Keiner wich dem Blick des anderen aus, sie verkrallten sich richtiggehend ineinander.
»Warum das Angebot?« wollte Pagodin wissen. Seine Haltung hatte etwas Lauerndes.
»Einsicht.«
»Keine Vorsehung?«
»Ich brauche keine Vorsehung mehr.«
»Und wie stellst du dir das
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