Der König von Sibirien (German Edition)
richtigen Zeitpunkt, denn der Natschalnik trieb sie bei Eiseskälte hinaus zur Arbeit. Der Bohrturm war inzwischen errichtet worden, die ersten Probebohrungen sollten beginnen.
Hubschrauber kamen nun nicht mehr, das gesamte Material für den Winter hatten sie eingeflogen. Lebensmittel und notwendige Ausrüstungsgegenstände transportierte man jetzt mit Lkw. In der kalten Jahreszeit war das kein Problem, denn die schweren Fahrzeuge benutzten die zugefrorenen Flüsse und kamen gut voran. Manchmal ging einer der Laster zu Bruch, wenn sich die Fahrer ein Rennen lieferten, betrunken waren oder im Frühjahr die Vorboten des Tauwetters nicht beachteten. Viele Hunderte von Fransportfahrzeugen samt Ladung liegen auf dem Grund der sowjetischen Flüsse und Seen.
Sosehr sich die Insassen des Lagers SIB 12 auch bemühten, ihre Baracken bekamen sie nicht warm. Es zog an allen Ecken und Enden, und manch mal lagen morgens auf dem Boden des Schlafraums neben den Ritzen kleine Schneeverwehungen.
Alexander konnte dem Mann im Depot nach langem Hin und Her etliche alte Säcke abschwatzen. Die Häftlinge trennten sie auf, tränkten die Fasern mit Wagenschmiere, wovon es genügend gab, und stopften damit die größten Spalten zu.
Das sprach sich schnell im Lager herum, denn auch die übrigen Strafgefangenen und das Wachpersonal wollten es warm haben. Aber Pagodin verbot, die restlichen Säcke aufzuteilen, obwohl sie keine Funktion mehr hatten. Außerdem ordnete er an, dass die Sträflinge das abgedichtete Material wieder entfernen sollten, weil sie es ohne Genehmigung angebracht hatten.
Doch die Barackeninsassen weigerten sich , und Pagodin gab den Befehl ein zweites Mal. Sie weigerten sich immer noch, weil erneut die Purga, ein eisiger Schneesturm, aufzog und der Wind über das flache Land fegte, als beabsichtigte er, jede Unebenheit wegzuschleifen.
Eines Tages, eigentlich konnte man nicht von Tag sprechen, denn in diesen nördlichen Breiten war es lediglich zwischen elf am Morgen und drei am Nachmittag leidlich hell, ließ Pagodin die Wachen aufmarschieren mit der Anordnung, Alexanders Unterkunft zu umzingeln. Die Soldaten fluchten, denn der Wind peitschte ihnen den Schnee wie spitze Nadeln ins Gesicht. Aber Pagodin blieb stur, er wollte sich keine Schwäche leisten. Deshalb mussten die Barackeninsassen heraustreten, sich aufstellen und der Kälte trotzen. Der Sturm unterschied jedoch nicht zwischen Obrigkeit und Verurteilten und bestrafte jeden, auch Pagodin, der gleichfalls ausharrte.
Aggressiv standen sie sich gegenüber: Frustrierte Wachen, die keinen Sinn in dem Befehl ihres Vorgesetzten sahen, und dickköpfige Strafgefangene, denen die Anordnung noch unsinniger erschien. Dabei wusste jeder, dies war lediglich ein Machtkampf zwischen Pagodin und Alexander, bei dem der Sieger vorab feststand: der Natschalnik.
Pagodin trat näher. Von seinem Gesicht war wegen Pelzjacke und Schapka nicht viel zu sehen.
»Gautulin, zum letzten Mal, entferne die Abdichtung.«
Obwohl Pagodin höchstens zwei Meter entfernt stand, konnte Alexander ihn kaum verstehen, so laut heulte der Wind.
»Ich weiß nicht mehr, wo wir überall abgedichtet haben.«
»Ich gebe dir zehn Sekunden.«
»Gut, wenn der Sturm vorbei ist.«
»Nein, jetzt.«
»Wenn der ...« Plötzlich sprang Alexander nach vorn, packte Pagodin und riss ihn mit sich zu Boden. Krachend fiel genau an der Stelle, an der eben noch der Natschalnik gestanden hatte, der Sendemast in den Schnee. Zwei der Soldaten agierten übereifrig und stießen Alexander mehrmals den Gewehrkolben in den Rücken. Aber die Strafgefangenen hatten mitbekommen, was geschehen war. Drohend schoben sie sich näher.
Inzwischen hatte sich Pagodin wieder aufgerappelt. Alexander blieb am Boden liegen, Blut tropfte aus seinem Mund.
»Los, bringt ihn zum Sanitäter«, befahl der Natschalnik und verschwand.
Eine Stunde später schleppte sich Alexander mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück in die Baracke.
»Wieso bist du nicht geblieben?« fragte ihn einer.
»Ich gönne ihm diesen Triumph nicht«, keuchte Alexander und spuckte Blut.
Pagodin besuchte ihn und bat ihn, zur Krankenstation zu gehen.
»Gautulin, ich bin für dich verantwortlich.«
»Ich muss am Leben bleiben, wie? Bis das Rote Kreuz hier war, dann hast du freie Hand.«
Pagodin war irritiert. Woher konnte Gautulin davon Kenntnis haben? Außerdem hatte jeder mitbekommen wie Alexander ihm das Leben gerettet, ihn zumindest vor einer sehr schlimmen
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