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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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Denkweise war die der Kaderschule, auf der er als junger Offizier geglänzt hatte. Dort hatte man ihm eingeimpft: Vertraue niemandem, außer dem Staat und der Partei. Sich daran erinnernd, gab er Anordnung an die Wachmannschaft, scharf aufzupassen. Außerdem ließ er einen zweiten Satz Scheinwerfer auf den Wachtürmen montieren und einen Draht im Zaun einziehen, der bei jeder Erschütterung oder Berührung sofort Alarm auslöste. Zusätzlich erhöhte Pagodin die Appelle von vier auf sechs am Tag. Der letzte war jetzt abends um acht, gleich nach dem Essen. Die Gefangenen murrten, beließen es aber dabei, denn Alexander hatte sie darauf vorbereitet.
    In den folgenden Wochen malträtierte Pagodin seinen Schädel auf der Suche nach einem stichhaltigen Grund: Warum ist dieser Gautulin so kooperativ? Weshalb geht er mit solchem Elan ans Werk? Dabei hätte er doch allen Grund, mich bis in die Ewigkeit zu hassen. Nach alldem, was er unter mir hat leiden müssen. Schuldgefühle machten sich bei ihm jedoch nicht bemerkbar.
    Ist es Berechnung, fragte sich Pagodin ein andermal, die Gautulin so handeln lässt? Oder die Aussicht auf Vergünstigungen? Vielleicht die Erkenntnis, sich mit mir zu arrangieren zum Vorteil beider, ohne uns wie bisher zu zerfleischen. Plötzlich glaubte er den wahren Grund zu kennen: Wir sind aufeinander angewiesen, zwar auf unterschiedlichen Seiten stehend, aber angewiesen. Der Vorfall um die Schweizer und deren Film hatte ihm, dem Politkopf, im Nachhinein deutlich gezeigt, dass oft nur ein gradueller Unterschied bestand zwischen der Position vor und hinter dem Zaun. Diese Erkenntnis ließ Pagodin erschrecken.

    Mit Presslufthämmern bearbeiteten die Häftlinge die oberste gefrorene Bodenschicht. Anschließend setzten sie das einzige Gerät, das sie hatten, auf die vorbereitete Fläche und bohrten ein drei Meter tiefes Loch mit einem Durchmesser von vierzig Zentimetern. Die Masten waren fünfunddreißig dick.
    Nach den ersten fünf Bohrungen ließ Alexander die langen Pfosten so ausrichten, dass deren oberstes Ende in Windrichtung zeigte, das untere dicke genau vor ein Loch zu liegen kam, dessen hintere Hälfte mit Holzhohlen erhöht worden war. Etwa zwanzig Meter davon entfernt rollten zwei Männer die zusammengenähten Zeltplanen aus, verteilten sie nach Alexanders Anweisung und postierten sich anschließend auf die dunkle Fläche, die sich markant vom weißen Schnee abzeichnete. Zehn Strafgefangene hatten sich paarweise im Abstand von vier Metern aufzustellen und je eine lange Stange, an deren Spitze ein aufgeschraubtes V war, zu halten. Anschließend dirigierte Alexander weitere vier Leute an die Zeltplanen, wo sie sich zu den anderen gesellten.
    Pagodin beobachtete die Vorbereitungen und ahnte, was Gautulin beabsichtigte. Falls es funktioniert, sagte er sich, dann ist das die genialste Lösung, die je ein Teufelskerl in Westsibirien erdacht hat.
    Alle standen auf ihren Posten. Alexander gab das Zeichen, das eine Ende der Zeltplane wurde angelupft. Knatternd fuhr der Wand darunter und bauschte sie auf wie einen Fallschirm. Und dann zerrte die riesige Plane an den Stricken, die bis zur Spitze des langen Mastes verliefen. Der Mast zitterte, wurde angehoben, die Männer drückten mit ihren Stangen nach. Am Fußende arretierte eine Gruppe die halbkreisförmig angeordneten Holzbohlen, denn der Mast brauchte ein Widerlager, damit er nicht auf dem glatten Boden wegschmierte. Höher und höher richtete sich der Mast auf, exakt in der Richtung gehalten von den jeweils zehn Männern mit den V-förmigen Stangen. Als er annähernd senkrecht stand, rutschte das stumpfe Ende in das kurz vorher mit Wasser gefüllte Loch und sackte weiter nach unten. Mit einem schmatzenden Geräusch verkeilte sich der Mast.
    »Leinen kappen.« Zwei Mann rissen an den Schlaufen, damit sich das Seil, die Verbindung zwischen Windsegel und Mastspitze, löste. Und dann applaudierten die Arbeiter, Strafgefangene wie Wachposten. Der Mast wurde ausgerichtet, eine halbe Stunde später würde er unverrückbar in einem Panzer aus Eis stehen.
    Pagodin drehte sich auf dem Absatz um und rannte in sein Büro. »Ich gehe auf die Wette ein«, hörte ihn einer rufen.

    Die Häftlinge schafften in der ersten Woche vierzig Masten. In der darauf folgenden, prophezeite Alexander, gehe es noch schneller, denn das Team spiele sich mehr und mehr ein. Was alle verwunderte: Ein Ruck ging durch die Strafgefangenen, ein ungeahntes Wirgefühl schweißte sie

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