Der Königsschlüssel - Roman
emporziehen. Schweißnass kam er oben an. Ganz langsam hob er den Kopf über den Brunnenrand und schaute sich vorsichtig um.
Der Brunnen befand sich in einem schmalen Burghof, genau in der Mitte, Cephei konnte noch einen Schuppen ausmachen und etwas, das wie ein kleinerer Stall aussah. Die Mauern der Burg waren hoch und umschlossen den Hof zu vier Seiten.
In eine war das Burgtor eingelassen,dessen Flügel aus massivem Holz mit eisernen Beschlägen offen standen, so dass er dahinter eine Art Zugbrücke erkennen konnte. Ein Gewirr aus Eisenketten verlief kreuz und quer über dem Tor.An der gegenüberliegenden Seite befand sich außerdem eine Tür, die wohl ins Innere der Burg führte. Über der Mauer dort erkannte Cephei die Dächer von drei Türmen. Doch das Erstaunlichste war,dass weit und breit niemand zu sehen war - und auch nicht zu hören. Wohin waren die Menschen verschwunden, die er eben noch gehört hatte?
Vorsichtig hangelte sich Cephei an der Aufhängung des Seils zum Brunnenrand, schwang seine Beine hinauf und kletterte aus dem Schacht. Es tat gut, festen Boden unter den Füßen zu haben, auch wenn seine Hände dunkelrot waren und höllisch brannten. Hektisch sah er sich um, aber noch immer war niemand zu sehen.
»Du kannst hochkommen«, flüsterte er in den Brunnen und winkte. Das Flüstern schallte ihm lauter entgegen, als er gewollt hatte. Schnell zog er den Kopf ein und wartete, aber nichts rührte sich. Vielleicht gab es gerade Abendessen?
Er sah zu, wie Vela den Kopf aus dem Gang steckte und dann genau wie er nach dem Seil griff, um sich daran emporzuziehen. Die Lampe baumelte an ihrem Gürtel. Sie brauchte viel länger als er, aber das hatte er erwartet. Für ein Mädchen war sie gar nicht schlecht.
Als sie oben angekommen war, streckte er ihr die Arme entgegen und half ihr herauszuklettern. Er packte sie so fest, dass
sie sich, als sie neben dem Brunnen stand, die Stelle rieb, an der seine Finger den Arm umschlossen hatten. Aber sie beschwerte sich nicht.
»Komm weiter«, flüsterte Cephei und zerrte sie zum Schuppen, wo sie sich schwer atmend gegen die Bretterwand lehnten. Die Anstrengung hatte sie erschöpft. Ihre Kleidung sah im Tageslicht noch dreckiger aus, der Gang durch den Berg hatte ihr nicht gutgetan. Durch das Loch in Cepheis Hose konnten sie sein aufgeschürftes Knie sehen. Das Blut war längst getrocknet und hatte eine dunkle Kruste gebildet.
Nervös zupfte Vela an ihrem Hemd. »Hier sind wir ja für alle sichtbar.«
»Wir können ja schlecht immer wieder in den Brunnen kriechen, wenn jemand kommt.«
Sie runzelte die Stirn. »Wieso ist hier eigentlich niemand zu sehen? Ist doch seltsam.«
»Die sind wahrscheinlich alle drin. Ich kann noch nicht mal die Klippengeier sehen, dabei sind die heute Morgen doch um die ganze Burg gekreist.«
»Hier sieht es überhaupt nicht aus wie im Schloss des Königs.«
»Das ist ja auch eine Hexenburg.«
Velas Stirnrunzeln verstärkte sich. »Das gefällt mir nicht.«
Cephei verdrehte die Augen. Andauernd sagten Mädchen diesen Satz. Als er wieder einmal grün und blau bei der Schusterstochter aufgetaucht war, um nach der Knochensalbe zu fragen, hatte sie genau dasselbe gesagt. Als ob es ihm besser gefiele! Er war ja nicht blind, alles an dieser Burg war seltsam. Aber er hatte nicht das Geringste dagegen, dass die Klippengeier im Augenblick nicht da waren. »Wir sollten reingehen und nachsehen, ob wir den Schlüssel finden.«
»Einfach so?«
»Was schlägst du sonst vor?«
Vela überlegte und zuckte mit den Schultern, beide starrten sie dann eine Weile auf ihre Füße, als hätten sie alle Zeit der Welt. Bis hierher waren sie gekommen, aber einen endgültigen Plan besaßen sie nicht. Irgendwie hatten sie angenommen, Urs würde schon wissen, was zu tun ist.
Am Anfang war es nur darum gegangen, einen Vogel zu finden, dann hieß es plötzlich, dazu gehöre auch noch eine Hexe! Die Burg war durch einen Lavafluss vom Rest der Welt abgeschnitten, Fremde kamen wohl nicht oft hinein. Wäre das eine Burg wie alle anderen auch, hätten sie sich als Händler oder Gaukler ausgeben können, aber so? Der Erste, der sie in den Gängen sah, würde Alarm schlagen. Hier gab es keine Menschen, unter die man sich unauffällig mischen konnte.
»Du hast doch zu den Bergmenschen gesagt, dass du mit der Hexe reden willst. Na, das wäre jetzt die beste Gelegenheit.«
»Das ist der Plan? Ich rede mit der Hexe?«
Er hob die Hände. »Wir werden wohl kaum in
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