Der Königsschlüssel - Roman
Schrei des Vogels ließ sie herumwirbeln.
»Na schön, ich hab schon begriffen, du musst dich nicht so aufführen«, schrie sie den Vogel an, der weiterhin seine kleinen schwarzen Augen auf sie gerichtet hielt. »Dann lassen wir ihn eben frei. Ich hoffe, er begegnet nicht Serpem und erzählt ihr, dass wir seine Hilfe nie in Anspruch genommen haben. Sie wird ohnehin wütend sein, wenn sie erfährt, dass wir uns von einem Vogel ihrer Mutter heimfliegen lassen.«
Langsam öffnete sie die Kiste und stupste den Raumgeist an, der noch friedlich in dem Kissen lag. Als er den Finger spürte, wurde er munter, richtete sich auf und hopste aus der Kiste. Ohne eine Geste oder sonstige Regung marschierte er
los, und weil keine Leine ihn hinderte, konnte er einfach weiterlaufen.
»Der wird schon nicht bei Serpem vorbeigehen, liegt wahrscheinlich sowieso nicht auf seinem Weg«, sagte Cephei. »Und nun komm.«
Zuerst stieg Cephei auf, denn er war im Klettern geübter und zog sich an den langen Federn empor. Dann half er Vela hinauf, die ein verbissenes Gesicht machte. Konnte ihr doch keiner übel nehmen, wenn sie den Vogel nicht mochte!
Sie flogen weiter, ganz hoch oben, und es wurde tatsächlich kälter, je weiter sie nach Norden kamen, und sie waren froh, eine zusätzliche Schicht Kleidung zu tragen.
Sich auf dem Vogel zu halten, strengte an, und so waren sie erleichtert, als er am Abend einen weiteren Landeplatz ansteuerte. Sie machten ein Feuer und legten sich schlafen. Auf der anderen Seite des Feuers saß der Klippengeier, und als Vela die Augen zufielen, war ihr, als stiege er erneut in die Lüfte.
Am nächsten Tag wurden sie zeitig wach, die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, und von dem Vogel fehlte jede Spur. Erst nach einer Weile spürten sie wieder einen kalten Hauch, und der nun bekannte Schatten verdunkelte die Sonne über ihnen.
»Wo warst du denn?«, fragte Cephei den Vogel, als dieser landete, erhielt aber keine Antwort. Vela hatte auch keine erwartet.
Sie saßen auf, und der zweite Tag ihrer Rückreise begann. Vela musste zugeben, dass diese Art der Fortbewegung nicht die angenehmste, aber bestimmt die schnellste war. Vielleicht sollten sich der Kanzler und der König mal überlegen, ob sie nicht auch ein paar Vögel dressierten, die sie dann überall hinfliegen konnten. Dann würden zumindest alle Bewohner des Landes den König
sehen können, und der König konnte sich ein Bild von allem machen. Er könnte zum Beispiel die Kuhzäune besser beurteilen.
Bei dem Gedanken an den König verspürte sie wieder leise Angst vor dem Moment, in dem sie versuchen würden, ihn aufzuziehen. Zuerst mussten sie ja ohnehin den Kanzler davon überzeugen, einen Versuch mit dem nachgemachten Schlüssel zu wagen. Wenn sie sich an ihre letzten Begegnungen mit ihm erinnerte, kamen ihr Zweifel, ob er auf sie hören würde. Ihm etwas abzuverlangen, würde sich vielleicht als ebenso schwierig herausstellen wie bei Apus. Wahrscheinlich verstieß ein Ersatzschlüssel auch gegen irgendein altes Gesetz.
Gegen Mittag konnten sie in der Ferne ein Rauschen hören und unter sich einen dunklen Strich erkennen.
»Ich glaube, wir sind fast am Schrottfluss«, schrie Cephei über die Schulter.
Je näher sie kamen, desto deutlicher konnten sie die großen Räder sehen und auch den Lärm hören. Fast erwartete Vela, Apus zu sehen, aber der war sicher längst weitergezogen.
Sie überflogen den Fluss, und auf einmal schrie Cephei auf: »Sieh mal, Vela, da, dort unten!«
Seine Hand zeigte hektisch auf einen Punkt unter ihnen. So weit sie es wagen konnte, beugte sie sich zur Seite. Auf der nördlichen Seite des Flusses war ein Lager aufgeschlagen, und davor saß eine große bepelzte Gestalt.
Urs.
Sofort schrie Cephei wie am Spieß und wackelte auf dem Vogel hin und her. »Urs! Urs!«, brüllte er, so laut er konnte, und winkte.
Der Bär hob den Kopf, dann sprang er auf und stolperte erschrocken zwei Schritte zurück.
»Urs, wir haben den Schlüssel!«, schrie Cephei weiter. »Halt doch mal an, geh runter, Vogel, da ist Urs.«
Aber der Klippengeier konnte oder wollte Cephei diesmal nicht verstehen, denn er flog in gleicher Höhe weiter. Vela winkte ebenfalls. Sie war zwar immer noch wütend auf Urs, denn schließlich hatte er sie im Stich gelassen, aber er hatte sie auch im Wald gerettet und durch Sanjorkh geführt, und offenbar hatte er sein Duell mit dem Ritter gut überstanden. Darüber war sie froh.
»Wir fliegen in die
Weitere Kostenlose Bücher