Der Königsschlüssel - Roman
verstand. »Nicht auf diesen Vogel!«
Der Klippengeier schien sie verstanden zu haben, denn er drehte den Kopf und sah sie mit glänzenden kohlschwarzen Augen an. Vela brach der Schweiß aus. Dieses Vieh war riesig und schuld an ihrem Unglück, an allem, an der ganzen Reise - da würde sie sicher nicht auf seinen Rücken steigen.
»Ach, nun stell dich nicht so an, Vela, das geht doch wirklich schneller.« Fasziniert betrachtete Cephei den Vogel.
»Hast du von dem Stachelscharrer was auf den Kopf bekommen?«, fragte sie erbost und packte ihn am Arm. »Wir werden herunterfallen, und wer weiß, vielleicht lässt er uns sogar absichtlich fallen.«
»Unsinn«, mischte sich Aniba ein, »das wird er nicht. Und ich muss jetzt wirklich darauf bestehen, dass ihr euch beeilt, schließlich habe ich mich lange genug mit euch aufgehalten. Es wird Zeit, dass ich mich um wichtigere Sachen kümmere. Lebt also wohl.« Mit diesen Worten drehte sie sich grußlos um und ging zurück in die Burg.
Während die beiden ihr noch verblüfft nachsahen, wurden sie plötzlich gepackt und in die Höhe gerissen. Vela schrie sich die Seele aus dem Leib, als sie immer höher stiegen und die Burg kleiner wurde. Der Klippengeier hatte sie einfach mit den Krallen ergriffen und flog nun mit ihnen über das Land. Auch Cephei sah blass aus, aber er schrie nicht, stieß sie nur nach einiger Zeit heftig mit dem Fuß an, so dass sie augenblicklich vor Schreck verstummte. Vela hätte dem Klippengeier gern zugerufen, dass er sie gefälligst runterlassen solle, aber sie befürchtete, dass er dann genau das tun würde - hundert Schritte über dem Erdboden.
Sie überflogen das Land, konnten vereinzelt Siedlungen ausmachen, die sie auf ihrem Hinweg nicht entdeckt hatten, auch Seen und Wälder. Lange flogen sie und konnten sich nicht bewegen, aber nach einer Weile gewöhnte sich Vela daran und befürchtete nicht mehr jeden Moment hinabzustürzen.
Nachdem sie bereits eine große Strecke geschafft hatten, für die sie zu Fuß bestimmt mehrere Tage gebraucht hätten, landete
der Klippengeier an einem See, um zu trinken. Auch Vela und Cephei nutzten die Gelegenheit. Sie bespritzten sich gegenseitig mit Wasser, und ab und zu warf Vela dem großen Vogel einen Blick zu. Aber der blieb ruhig und ließ sich die Flügel von der Sonne bescheinen. Danach aßen sie die letzten Vorräte aus ihren Rucksäcken und ein paar Hirtenbeeren, die am Seeufer wuchsen. Als der Klippengeier seine Flügel erneut ausbreitete, war das das Zeichen zum Aufbruch. Etwas unschlüssig standen sie neben dem Vogel.
»Er macht nicht den Eindruck, als wolle er uns wieder mit den Krallen packen«, stellte Cephei fest.
»Vielleicht müssen wir nur wegrennen, und dann kommt er nach«, erwiderte Vela und verschränkte die Arme.
Der Klippengeier wandte den Kopf und blinzelte sie an.
»Ich glaub, der versteht, was du sagst.« Cephei lachte.
Sie schaute misstrauisch zurück. »Unsinn.« Trotzdem schwieg sie nun lieber.
»Lass uns einfach aufsitzen. Wir binden uns mit einem Seil fest.«
»Ich hab doch schon gesagt, dass ich nicht auf den Vogel steige.«
»Weißt du«, sagte Cephei und trat näher zu ihr, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. »Manchmal bist du wirklich anstrengend. Kannst du nicht einmal etwas machen, ohne das Gegenteil zu wollen?«
Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, worauf er die Augenbrauen hob und ebenfalls die Arme verschränkte.
»Pff«, machte sie, weil das alles war, was ihr einfiel, und plötzlich stieß der Vogel einen heiseren Schrei aus, der ihnen durch Mark und Bein ging.
»Der bringt mich noch um den Verstand!« Sie öffnete ihren Rucksack, um zwei wollene Hemden herauszuholen. Eines reichte sie Cephei. »Da, zieh das über, wir kommen immer näher in den Norden. Es wird kühler werden. Bei dem Tempo pfeift der Wind ganz schön.«
Dann fiel ihr noch etwas ein. »Mensch, das hätten wir fast vergessen.« Schnell zog sie die Holzkiste aus dem Rucksack und stellte sie zwischen sich.
»Was machen wir mit dem da?«, fragte sie und zeigte auf die Kiste, in der sich der zweite Raumgeist befand.
Cephei sah ratlos darauf und wiegte den Kopf hin und her. »Wir könnten ihn rauslassen. Der findet auf jeden Fall nach Hause.«
»Und wenn der Vogel uns irgendwo absetzt und wir dann gar nichts haben und nicht zurückfinden?«
»Warum sollte er das tun?«
Vela zog eine Grimasse. »Vielleicht hat er irgendwann keine Lust mehr weiterzufliegen.« Ein weiterer
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