Der Koffer
an, dass mir die Fohlen gefallen ham.«
Sonnie wird bald vierzig.
Sie ist schon 39,999 Periode.
»Vierzig Jahre wanderten die Hebräer durch die Wüste«, sagt Rhett.
Sonnie hat ihm nicht gesagt, dass sie überfällig ist. Sie wollen beide keine Kinder. Sie haben keine und sie wollen keine.
»Im Alter von vierzig Jahren empfing Mohammed seine Visionen«, sagt Rhett.
Der Mann ist ein kommunikativer Idiot, denkt Sonnie. Nie entsteht ein Gespräch. Immer wirft er mir Fakten hin. Wie Knochen. Zum Apportieren.
»Es ist ein Live-Mitschnitt«, sagt Rhett. »Vladimir Horowitz spielt.«
Sonnie steht auf. Sie balanciert ihre Sei-glücklich-Tasse in der Hand. Sie hat noch nicht daraus getrunken. Sie hockt sich wieder vor den Kofferinhalt.
»Der größte Pianist der Welt, wenn du mich fragst«, sagt Rhett, der gern ihre volle Aufmerksamkeit hätte.
Ich frag dich aber nicht, denkt Sonnie. Sie hört Rhett immer nur im Zusammenhang mit Toten Superlative benutzen. Nie hat sie ihn sagen hören, sie sei die schönste Frau auf der Welt, die leidenschaftlichste Liebhaberin, die brillanteste Schreiberin, nahe liegende Dinge wie diese. Sie lebt ja auch noch.
»Es gibt noch eine andere Aufnahme mit Horowitz, von 1951. Die hab ich leider nicht.«
»Die Essenz«, sagt Sonnie. »Die Essenz eines Lebens in einem Koffer.« Die Formulierung kommt ihr noch im selben Moment pathetisch vor, aber Rhett hört sowieso nicht zu. Er führt Selbstgespräche.
»Rachmaninoff hat mal gesagt, dass Horowitz das 3. Klavierkonzert besser spielt als er selber.«
Sonnie holt tief Luft, aber nicht tief genug. Die Kuppel aus Musik sinkt tiefer und tiefer. Sie legt sich zentnerschwer auf den pappigen Toast, den dünnen Kaffee. Man muss betrunken sein, um das zu ertragen, denkt Sonnie.
»Als Mahler Chef der Philharmoniker war, hat er dieses Konzert dirigiert, 1909 hier in New York«, sagt Rhett. »Mit Rachmaninoff am Klavier! Alma Mahler saß im Publikum und dachte nur an Kokoschka.«
Sonnie hockt vorm Koffer und ärgert sich.
Dieser Mann auf der Matratze.
Liegt da und doziert.
»Gropius. Kokoschka kam später«, sagt sie, ihrer Sache nicht ganz sicher.
Rhett liegt auf der Matratze und ärgert sich.
Diese Frau vorm Koffer.
Ihr Hang zu Chaos, Unrat, Widerspruch!
Warum ist sie nicht hier, bei ihm, dem Frühstückmacher und Welterklärer?
Warum wühlt sie lieber im Müll?
»Na siehst du! Und dann leugnest du immer, eine Society-Kolumnistin zu sein!«
Rhetts Kommentar versetzt Sonnie einen Stich. Als Rhett und sie sich kennen lernten, war Sonnie Scout fürdeutsche Verlage gewesen, Rhett unterrichtete Kunstgeschichte an der Columbia University. Sonnie ahnte Bestseller vorher und sicherte Übersetzungsrechte. Rhett war der von verliebten Studentinnen umschwärmte Kunstprofessor. Im Lauf der Jahre hatte Sonnie sich – glücklichen Zufällen geschuldet – den Ruf einer Spürnase erworben und immer mehr Geld verdient. Aber dann war sie müde geworden, gequirlten Mist von jungen Koksköpfen zu lesen, zumal die Koksköpfe immer jünger und immer dümmer wurden und der Mist immer gequirlter.
Seit einem Jahr schreibt Sonnie Filmkritiken für ein Internetmagazin, bei dem ihre Freundin Chola sie untergebracht hat. Die Honorare sind symbolisch. Sonnie geht graduell in Rhetts Besitz über. Das gibt ihm offenbar das Recht, sich über sie lustig zu machen. Er muss doch wissen, dass sie keine Society-Kolumnistin ist. Er muss doch wissen, dass eine solche Bemerkung sie kränkt. Er müsste es wissen. Aber weiß er es?
Seit sie zusammenleben, hat Sonnie das Schreiben von Filmkritiken als Ausrede zur Sexvermeidung genutzt, die Arbeit hat das Rennen gegen die Migräne gemacht, die sie zu inflationärem Herumliegen in verdunkelten Zimmern verdonnert hätte.
In den Jahren zuvor, den Jahren des Betrugs, des Verstecks, des Kampfes, war Sex zwischen Sonnie und Rhett ein Rausch, ein Muss gewesen. Er war vom Herbeisehnen seltener konspirativer Zusammenkünfte beflügelt. Die Verfügbarkeit war damals schmerzlich eingeschränkt. Sonnie hat sich nach Rhett verzehrt. Ein wichtiges Entfachungsmoment für Geilheit. Das Sehnen.Das Begehren. Das Verzehren. Nun steht Sex auf dem Tagesmenü, wie der pappige Toast, en suite.
Sonnie packt den »Lady Baltimore« wieder voll. Kurz fällt ihr Blick in den halbblinden Handspiegel. Er zeigt ihr kein Bild. Sie putzt mit dem Ärmel das schwärzliche Glas, sie wienert es, bis ihr Unterarm heiß ist. Das Spiegelglas bleibt beschlagen,
Weitere Kostenlose Bücher